Kampf gegen den Hass: Naildesign, Make-up, Krieg in Gaza

Nr. 51 –

Matt Bernstein ist queer und jüdisch und erreicht mit seinen politischen Posts auf Instagram ein Millionenpublikum. Eine Begegnung in Zürich.

Matt Bernstein und SP-Nationalrätin Anna Rosenwasser machen Selfies
Seine Posts lesen auch diejenigen, die etablierte Medien kaum mehr zu erreichen vermögen: Matt Bernstein und SP-Nationalrätin Anna Rosenwasser machen Selfies.

Matt Bernstein sitzt im Backstagebereich des Zürcher Jugendzentrums Dynamo. Draussen im Saal warten rund 200 grösstenteils jüngere Personen auf seinen Auftritt. Er kann nicht glauben, dass es hier in der Schweiz Menschen gibt, die ihn, den 25-jährigen US-Amerikaner, der erst einmal in Europa war, sehen möchten. «Als Kind wollte ich vor allem eines: streiten», sagt er und lacht. «Meine Eltern meinten stets, dass ich Anwalt werden sollte. Daraus ist nichts geworden, aber das, was ich jetzt mache, erlaubt mir auch, dauernd zu diskutieren und zu streiten.»

Das kommt offenkundig gut an. Gerade in der LGBTIQ+-Community hat sich Bernstein – Eigenbezeichnung: «Nischenbekanntheit aus dem Internet» – in den vergangenen Jahren zu einem Star entwickelt. Über 1,5 Millionen Personen folgen dem New Yorker, der sich selbst auf Instagram als «freundlichen, schwulen Juden mit sehr langen Nägeln» beschreibt.

Entsprechend gross war die Aufregung, als die «Milchjugend», ein Verein für LGBTIQ+-Jugendliche, bekannt gab, Bernstein würde zusammen mit SP-Nationalrätin Anna Rosenwasser und der deutschen Podcasterin Nina Burkhardt im Dezember an einer Diskussion über Onlineaktivismus teilnehmen. Der «Tages-Anzeiger» betitelte Bernstein vor seinem Zürcher Auftritt als «Influencer». Doch damit ist dieser nicht glücklich: «Ich will den Menschen nicht sagen, wie sie sich zu fühlen haben. ‹Politischer und sozialer Kommentator› wäre eine zutreffendere Beschreibung.»

Zwischen Politik und Populärkultur

Auf Instagram publiziert Bernstein recherchierte Beiträge zu Themen wie Homophobie, neue Rechte und soziale Bewegungen mit Fokus auf die USA. Seine Posts bestehen meist aus bis zu zehn in Blau und Rosa gehaltenen, sorgfältig gestalteten Slides mit Informationen, Einordnungen mit Quellenangaben und Meinungen. Es sind sogenannte Share Pics: Beiträge, die schnell gelesen sind und sich einfach teilen lassen. Immer wieder filmt Bernstein auch sich selbst und erklärt in kurzen Videos komplexe gesellschaftspolitische Zusammenhänge oder greift homo- und transphobe Personen, Misogynisten und Politiker:innen aller Couleur an. Gleichzeitig versucht er, auf einen Teil der ihm entgegenschlagenden Hassbotschaften mit Argumenten einzugehen. Die Sphäre zwischen Politik und Populärkultur ist sein Territorium. Er spricht über Naildesign und Make-up, aber auch über den Krieg in Gaza und die Aidspandemie der achtziger Jahre. Mit seiner Themenbreite erreicht er diejenigen, die etablierte Medien kaum mehr zu erreichen vermögen. Und diese Verantwortung nimmt er ernst. Rund acht Stunden braucht er durchschnittlich für einen seiner Infoposts. Dabei ist ihm eines wichtig: «Ich bin nicht objektiv. Als schwuler Mann, der an Gleichstellung glaubt, habe ich eine ganz klare Agenda.»

Sein Credo: «Ich bin fest davon überzeugt, dass viele Menschen gar nicht so verfestigt in ihren Glaubenssätzen sind, wie wir es manchmal annehmen. Wenn ich sie erreiche, bevor es jemand anders mit Hass und Hetze macht, kann ich sie davon überzeugen, dass queere Menschen keine Gefahr für ihre Kinder darstellen und dass es nicht okay ist, Menschen anderer Hautfarbe oder Geschlechtsidentität anzugreifen.» Ob das funktioniert? «Ja», sagt Bernstein, «das ist zumindest meine persönliche Erfahrung.» Und es ist die Erfahrung der LGBTIQ+-Community, die Bernstein in den Kommentaren für seine Arbeit dankt. Viele berichten dabei, wie sie nun endlich eine argumentative Grundlage für schwierige Coming-outs gegenüber konservativen Eltern oder Mitschüler:innen gefunden hätten.

Gegen Trumps Twitter-Manie

Aufgewachsen ist Bernstein als der jüngste von drei Brüdern in einem Mittelschichtshaushalt in einem provinziellen Vorort von New Jersey. Bernstein beschreibt seine Familie als liebevoll; er erhalte seit jeher viel Rückhalt von seinen Eltern. Eine der Hassbotschaften, die er am häufigsten bekomme, dreht sich um die Frage, ob denn sein Vater auf ihn stolz sein könne. Auf einen Sohn, der Make-up trägt und lange Nägel hat, statt Sport zu machen. «Erstens mache ich beides, und zweitens liebt mich mein Vater.» Später erzählt Bernstein dem Publikum im Dynamo, dass er in seiner Kindheit erlebt habe, dass sein Vater geweint habe, wenn er – der Vater – traurig oder wütend war. «Das hat meine Wahrnehmung von Männlichkeit beeinflusst.»

Als Bernstein in die Pubertät kam, zog sein ältester Bruder nach New York. «Er lebte zusammen mit seiner Partnerin in Hell’s Kitchen, einer sehr schwulen Gegend in Manhattan», erzählt er und erinnert sich: «Auf dem Weg in ein Restaurant gingen wir an den zahlreichen Gay-Bars vorbei. Ich sah Männer in zerrissenem Denim, die draussen standen, rauchten und sich unterhielten. Ich hatte mich damals noch nicht geoutet, aber ich weiss noch, wie ich mir dachte: Wow, diese Freiheit, sich selbst zu sein, diesen Ausdruck, das will ich auch.»

Nach der Highschool zog er ebenfalls nach New York und studierte Fotografie und Marketing. Während dieser Zeit, Donald Trump war damals US-Präsident, fing Bernstein an, seine Meinung in den sozialen Medien kundzutun. Vor allem Trumps Twitter-Manie habe ihn als jungen Studenten beeinflusst. «Denn was er tweetete, bestimmte die Headlines aller grossen Medien. Oftmals ohne Kontext oder faktische Einordnung des Gesagten», kritisiert er. Im Kielwasser dieser Schlagzeilen sei die Ablehnung von Minderheiten gewachsen. «Natürlich war der Hass immer schon da, aber plötzlich schien es völlig okay, ‹Kill all gays› auf Twitter zu schreiben», sagt Bernstein. Und weil er eben gerne streitet, fing er an, vermeintliche Fakten online zu widerlegen. Seither wächst die Gruppe all jener, die ihm zuhören, stetig. Mittlerweile lebt Bernstein davon, er tritt auf und wirbt für Produkte. Das sieht er nicht als Widerspruch zu seiner Arbeit. «Ich bin eben kein Journalist. Ich bin nur ein Typ, der im Internet seine Meinung sagt.»

Das Bedürfnis, politisch eine eigene Stimme zu haben, führt Bernstein auf seine Identität als schwuler jüdischer Mann zurück, nicht auf seine Kindheit. «Uns wurde beigebracht, wählen zu gehen, nicht mehr. Politische Diskussionen zu Hause», so erinnert er sich, «endeten oft mit der Bemerkung: ‹Egal, die sind eh alle korrupt.›» Ein Aktivist zu sein, bedeutet für Bernstein aber keineswegs, im Zweiparteiensystem der USA die Werbetrommel für die Demokrat:innen zu rühren. «Ich glaube nicht, dass es zur Befreiung sexueller und ethnischer Minoritäten führen würde, Joe Biden zu wählen.» Darum spricht er wenig über parlamentarische Politik, sondern lieber über Entwicklungen, die über die derzeitige Präsidentschaft hinausreichen.

Für einen Waffenstillstand

Zum Beispiel über die Angst vor dem vermeintlichen Fremden. Bernstein nennt das «die moralische Panik, die einen Grundpfeiler der amerikanischen Gesellschaft und Politik seit McCarthy darstellt». Jede Generation habe ihren Sündenbock. «In den fünfziger Jahren waren es angebliche kommunistische Spione, dann die Furcht vor rituellen satanischen Kindsmorden, dann kam die Angst vor schwulen Männern und ‹ihren Krankheiten›, und jetzt sind es eben trans Personen und Dragqueens, die zur Bedrohung für die moralische Integrität der USA und der ganzen westlichen Welt hochstilisiert werden.»

In den letzten Wochen dominierte noch ein weiteres Thema Bernsteins Posts: der Krieg in Gaza. Der Aktivist plädiert für einen Waffenstillstand. Zweimal kommt dieses Thema auch während der Diskussion in Zürich auf. Zweimal ergreift Bernstein als einziger Panelteilnehmer dezidiert Position. Auf die Frage aus dem Publikum, ob er als jüdischer und schwuler Mann mit seiner Positionierung nicht anecke, sagt er: «Natürlich tue ich das. Aber ich werde nicht aufhören, meine Plattform für das zu nutzen, was ich als richtig erachte. Und wenn mir einige Freundinnen meiner Mutter deswegen nicht auf Facebook zum Geburtstag gratulieren, sei es eben drum.» Zweimal wird das Thema nach Bernsteins Statements unsanft gewechselt. «Well, what a topic change», sagt Bernstein und verzieht kaum merklich den Mund. Dann lacht er wieder, macht Witze.

Zwei Tage später sitzt Bernstein noch einmal auf einem Panel zum Thema queerer Onlineaktivismus, diesmal organisiert vom Checkpoint Zürich, einem Kompetenzzentrum für HIV und weitere sexuell übertragbare Krankheiten. Dieses Mal ist das Publikum etwas älter, die Reaktionen auf Bernstein bleiben aber dieselben. Die Anwesenden hängen an seinen Lippen, quittieren einzelne Bemerkungen mit spontanem Applaus. Einen Tag darauf fliegt Bernstein zurück nach New York und meldet sich mit einem weiteren Post zu Gaza. Und er postet ein Selfie mit der Überschrift «Ich habe mir einige Tage in Zürich dafür genommen, persönlich nervig zu sein. Jetzt bin ich zurück, um online nervig zu sein!» So ist er Jahre nach dem Besuch bei seinem Bruder in Hell’s Kitchen zu einem integralen Bestandteil ebenjener Community geworden, die er stets bewundert hat – aufmüpfig, nervig, wie er es nennt, laut und bestimmt. Ob der vierzehnjährige Matt von damals stolz wäre? «O mein Gott», sagt Bernstein und lacht. «Ich glaube, er wäre so verwirrt.»