Fantoche: In die Wasserrutsche pinkeln
Wie es möglich ist, nicht komplett würdelos erwachsen zu werden, ist eine glücklicherweise immer noch ungeklärte Frage. Drei ganz unterschiedliche Filme am Animationsfilmfestival Fantoche versuchen, sie zu beantworten.

Es kann wegen eines ausserordentlich gut aussehenden jungen Mannes schon mal einiges ins Rollen geraten. Auf dem Schulweg spricht Souta Suzume an: Ob es hier in der Nähe irgendwo Ruinen gebe? Sogleich verzaubert, folgt Suzume ihm in die verlassenen Badehäuser, wo sie eine unscheinbare Tür öffnet – und damit einem riesenhaften Wurm Einlass in die Welt gewährt, der, wo immer er eintritt, Erdbeben über das Land bringt. In ganz Japan, in verlassenen Schulen, Freizeitparks, Metrostationen öffnen sich nun solche Türen. Sie zu verschliessen, ist die Aufgabe des Jungen, und so gerät Suzume mit in die Mission hinein, das Land vor Naturgewalten zu bewahren.
Ein Ort für sich selbst
Die Romanze drängt Regisseur Makoto Shinkai in «Suzume» erfreulicherweise bald ganz an den Rand, denn natürlich geht es in erster Linie um die Titelheldin selbst, um ihr Aufwachsen und Sichfinden in der Welt. Zuträglich ist dabei, dass der schöne junge Mann kurz nach seinem ersten Auftritt von einer Katze in einen Kinderstuhl verbannt wird, das wichtigste Erinnerungsstück Suzumes von ihrer verstorbenen Mutter. Fortan holpert also dieser dreibeinige, sprechende Stuhl neben Suzume her, auf einer Reise quer durch Japan. Auch die Katze Daijin ist nie weit, was allerorts neugierige Menschenmengen dazu animiert, dieses drollige Trio zu filmen und die Videos in die sozialen Medien zu stellen.
Sehr toll, wie Shinkai die Fantasygeschichte in den japanischen Alltag einbettet, zu dem auch detailverliebte Darstellungen von Fahrten mit Metro, Zug und Fähre, von Strassenszenen, schummrigen Bars, Tankstellen oder Tangerinefeldern gehören. Irgendwann treten auch Suzumes liebenswürdige, aber höchst besorgte Tante sowie ein Schulfreund von Souta, der von dessen Stuhldasein nichts ahnt, auf den Plan, bis alle zusammen in einem roten Cabriolet mit kaputtem Dach durch die Gegend rasen, während japanische Siebzigerhits aus den Lautsprechern dröhnen. Ein Vergnügen. Dass die Fantasyangelegenheit daneben recht erwartbar gerät, die Romanze am Schluss doch noch kitschig, ist da gar nicht so schlimm.
Die Odyssee einer anderen jungen Frau führt ganz woanders hin: Die lettische Regisseurin Signe Baumane schickt ihre Heldin Zelma in «My Love Affair with Marriage» von Riga aus durch die halbe Sowjetunion, wo sie auf der Suche nach Liebe ein ums andere Mal stolpert. Begleitet von einem Sirenenchor, versucht sie seit dem ersten Schultag verzweifelt herauszufinden, was es heisst, eine Frau zu sein und sich – folglich – anständig zu benehmen. Wie schmerzhaft sich die strikt binäre Ordnung der Geschlechter und die damit einhergehende Selbstdisziplinierung auf Individuen auswirken können, wird hier deutlich.
Baumane lockert diese traurige Ausgangslage durch einige humorvolle Szenen und visuelle Spässe auf und erinnert damit ein wenig an die Comics von Liv Strömquist. Ihrem Werk und dem Film gemein ist auch der manchmal ins Pädagogische kippende, durchgehend starke Erklärwillen, der sich in «My Love Affair» insbesondere in einer personifizierten «Biologie» ausdrückt. Diese zeigt jeweils, was im Körper je nach Situation gerade abgeht: Was etwa in einem verliebten Hirn hormonell passiert, wird so anschaulich beschrieben.
Leider verpasst Baumane die eigentlich naheliegende Chance, hier auch kritisch auf biologistische Mythen einzugehen. Das Hymen existiere bei einigen Säugetieren, nur bei Menschen werde ihm eine kulturelle Bedeutung zugemessen, heisst es zwar an einer Stelle – dass es aber gar nicht bei allen Menschen mit Vulva vorhanden ist, der Mythos also sowieso nicht bloss kulturell, wird nicht erwähnt. Ebenso wird die alte Leier vom stärksten Spermium bemüht, das sich – durch und durch erobernd männlich – gegen die anderen durchkämpft und die Eizelle befruchtet. Das ist schade. Es hätte dem Film gut getan, sich stärker auf seine so eigenwillige Protagonistin zu konzentrieren, die es trotz Biologie und Kultur schliesslich schafft, in dem allem einen Spalt für sich selbst zu finden.
Die Geister hocken überall
Einen solchen eigenen Ort für sich zu finden, ist gar nicht so leicht, wenn man unter Heteropaaren mit Kindern in einem All-inclusive-Resort Ferien macht. Der Kurzfilm «The Miracle» der belgischen Regisseurin Nienke Deutz folgt der vierzigjährigen Irma. Diese verbringt zwischen Schwangerschaftsyoga und Kleinfamilien ihre Tage, bis sie nicht mehr nur die Küsschen der anderen, ihre abendlichen Cocktailrunden und spielenden Kinder sieht, sondern auch die ungeborenen Babys in den Bäuchen der Schwangeren: Die Geister hocken wirklich überall.
Deutz arbeitet mit nur wenigen Szenen und beobachtet dafür umso präziser. Die alles überschattende Langeweile eines solchen Urlaubs, die sowohl die Gäste als auch die prekär Angestellten gleichermassen lähmt, kommt so schauderhaft schön zum Vorschein. Ebenso wie es ist, sich unter lauter einem eigentlich ähnlichen Leuten völlig fremd zu fühlen. Darüber einsam und verunsichert werden? Zum Glück hilft es, sich nachts zuoberst auf die Wasserrutschbahn zu setzen und kichernd hinunterzupinkeln.
Makoto Shinkai: «Suzume». Japan 2022. 121 Minuten. Signe Baumane: «My Love Affair with Marriage». Lettland/USA/Luxemburg 2022. 108 Minuten. Nienke Deutz: «The Miracle». Belgien 2022. 15 Minuten.
Das 21. Internationale Festival für Animationsfilm Fantoche läuft vom 5. bis 10. Oktober 2023 in Baden. www.fantoche.ch