SVP nach US-Vorbild: Angriff auf die Solidarität

Nr. 35 –

Eine Callcentermitarbeiterin im US-Bundesstaat Mississippi erzählte mir vor ein paar Wochen, dass sie sich regelmässig entscheiden müsse: Entweder bezahlt sie ihre Nebenkostenrechnungen, oder sie geht mit ihren Kindern zum Arzt. Für beides reiche das Geld nicht. Eine Krankenversicherung, die alle nötigen Behandlungen decke, koste schlichtweg zu viel Geld, so die junge Schwarze Frau.

Das ist Normalität in den USA. Knapp dreissig Millionen Menschen haben keine Krankenversicherung. Dazu kommen mehr als vierzig Millionen, die zwar versichert sind, aber wegen der hohen Eigenanteile trotzdem keinen ausreichenden Schutz haben. Das Gesundheitssystem produziert massenhaft Leid, zerstört Körper, stürzt Menschen in die Schulden. Laut einer Harvard-Studie von 2009 sterben jährlich rund 45 000 US-Amerikaner:innen «aufgrund eines Mangels an Gesundheitsversorgung». Kaum verwunderlich also, dass sich die absolute Mehrheit längst eine staatliche Krankenkasse für alle wünscht, so wie sie der linke Senator Bernie Sanders vorschlägt.

Man kann davon ausgehen, dass die Zürcher Gesundheitsdirektorin Natalie Rickli (SVP) diese Sachen weiss. Das US-System der organisierten Verwahrlosung ist ja kein Geheimnis. Statt darin jedoch die maximale Abschreckung zu sehen, scheint Rickli daraus Inspiration zu ziehen. In der «SonntagsZeitung» schlug sie nun die Abschaffung der obligatorischen Krankenkasse vor (vgl. «Die Ärztin muss man sich leisten können»). Das aktuelle System belaste den «Mittelstand» und sei zu bürokratisch, weshalb eine grundlegende Reform nötig sei. Eine konkrete Lösung habe sie nicht, aber es dürfe «keine Tabus» geben.

Ricklis Vorschlag ist ein Angriff auf das Solidaritätsprinzip, das sich in der Schweiz und vielen anderen europäischen Ländern zum Glück durchgesetzt hat: Alle zahlen ein, niemand fällt durchs Netz. Perfekt ist das System in der Umsetzung zwar wahrlich nicht, und die hohen Krankenkassenprämien belasten grosse Teile der Bevölkerung. Insofern sind Reformen tatsächlich überfällig. Ansetzen sollte man aber bei den hohen Profiten von Versicherungsunternehmen, privaten Spitälern und Pharmakonzernen. Denn wie die USA zeigen, ist das Kernproblem die Kommodifizierung der Gesundheitsversorgung, ihre Reduktion auf eine Ware.

Es ist bezeichnend, dass Rickli im Interview ausgerechnet vor dem britischen National Health Service warnt – in ihren Augen Symbol fürs Versagen staatlicher Systeme. Schwach ist der NHS aber vor allem, weil er seit David Camerons Austeritätsregierung kaputtgespart wurde. Wir sehen den neoliberalen Urtrick: Bei staatlichen Infrastrukturen kürzen, um dann auf staatliche Dysfunktionalität zu verweisen.

Ricklis radikaler Vorstoss mag überraschend wirken. In die grössere Agenda der SVP passt er jedoch gut: Sozialausgaben und Steuern runter, Ausländer raus. Die Partei verfolgt seit Jahren einen Klassenkampf von oben, gepaart mit groteskem Kulturkampf gegen links. In der Inszenierung ihres Rechtsnationalismus erinnert sie dabei immer stärker an Trumps Republikaner:innen.

Klar wurde das beim Wahlkampfauftakt am Wochenende in Zürich, als Parteifunktionäre ihre Hetze gegen den «Woke-Wahn», trans Menschen und eine vermeintliche «Masseneinwanderung» mit einer absurd klischeehaften Heimatshow darboten. Nils Fiechter von der Jungen SVP sprach von einer «Schlacht um die Seele unseres Landes» – mit aufgerissenen Augen und zu dramatischer Musik. Man sah marschierende Trychler, Männer mit Peitschen. Über 4000 Menschen wohnten diesem Theater der Untergangsbeschwörung bei, das mit messianischem Pathos aufgeladen wurde. ­Make Schweiz Great Again.

Dass rechte Parteien ihren Sozialdarwinismus gerne mit Kitsch verbinden, ist nicht neu. Auffällig ist aber der Einfluss aus den USA, was die Performance und die Skrupellosigkeit betrifft. Trumps Maga-Bewegung hatte von Anfang an etwas von einer Sekte, in der man endlich alles sagen darf, was man schon immer sagen wollte. Die SVP scheint diesen «düsteren Hedonismus», wie der italienische Medientheoretiker Antonio Scurati es nennt, immer verbissener zu verfolgen.