Wahlkampf in den Niederlanden: Heilsbringer und Hassobjekt

Nr. 35 –

Europas oberster Klimaschützer kehrt nach Den Haag zurück. Als Spitzenkandidat des neuen Linksbündnisses will Frans Timmermans Premier werden.

Frans Timmermans schaltet sofort auf Angriff. «‹Macht› ist kein schmutziges Wort», ruft er in den Saal, der ihn soeben mit Standing Ovations begrüsst hat. Einträchtig klatschen und jubeln sie ihm zu, die rot gekleideten Mitglieder seiner Partij van de Arbeid und jene von GroenLinks in ihren grünen Shirts. An einem warmen Abend Ende August, knapp drei Monate vor der Neuwahl zum niederländischen Parlament, präsentieren die beiden linken Parteien in Den Haag erstmals ihren gemeinsamen Spitzenkandidaten: den bisherigen Vizepräsidenten der EU-Kommission, auch bekannt als «Mr. Green Deal».

Dass man dort, bei zwei mittelgrossen Oppositionsparteien, ganz offen von der Macht spricht und auch noch daran glaubt, sie erringen zu können, hat im Wesentlichen mit diesem Mann zu tun. Seit er im Juli seinen plötzlichen Abschied aus Brüssel ankündigte, um in Den Haag Premier zu werden, hat das neue Linksbündnis in Umfragen deutlich zugelegt. In den Niederlanden spricht man von einem «Timmermans-Effekt». Was der bewerkstelligen kann, zeigten die EU-Wahlen 2019: Damals gewannen die seit Jahren kriselnden Sozialdemokrat:innen aus heiterem Himmel – mit dem früheren Aussenminister ganz oben auf der Liste.

Seit der Rückkehr des 62-Jährigen sind auch umgehend Stimmen laut geworden, die ihm ein übergrosses Ego und Eitelkeit vorwerfen. In der sehenswerten Dokumentation «The European» (Dirk Jan Roeleven, 2016), die ihn porträtiert, nuanciert Timmermans: wenn schon eitel, dann bezüglich seiner Ambitionen. Was einerseits für Menschen in politischen Spitzenämtern nichts allzu Aussergewöhnliches ist. Andererseits: Der Mann, der 2019 so gerne die Leitung der EU-Kommission übernommen hätte, hat schon sein ganzes Leben lang etwas zu beweisen.

Konstanter Spagat

Der Sohn eines Botschaftsangestellten wuchs zwar teilweise in Brüssel und Rom auf, fühlte sich jedoch gegenüber dem Nachwuchs der Diplomat:innen dort benachteiligt. Als junger Mann stand er erst selbst in Moskau im diplomatischen Dienst, wurde dann Abgeordneter, Staatssekretär im Aussenministerium, schliesslich dessen Leiter. Ein steiler Aufstieg für jemanden, dessen Grossvater laut Timmermans «ein Tagelöhner, der in den Limburger Minen ein besseres Leben suchte», war. Von dieser prägenden Figur seiner Biografie übernahm der junge Frans nicht nur sozialdemokratische Ideale, sondern auch die Leidenschaft für Fussball.

Im Bergbaugebiet an der Grenze zu Belgien und Deutschland, nach dem Zweiten Weltkrieg schwer getroffen vom Strukturwandel, spielte sich der andere Teil von Timmermans’ Jugend ab. Es ist zugleich randständig und international, Euregio, Kernland von Montan-Union, EG und Schengen-Abkommen. In Timmermans’ Geburtsstadt Maastricht entstand auch der gleichnamige EU-Vertrag. Timmermans verkörpert das sozialdemokratische Aufstiegsnarrativ vor einem europäischen Hintergrund. Seine Vita ist ein konstanter Spagat: Er spricht sechs Sprachen fliessend und dazu den Limburger Dialekt, bewegt sich auf höchstem weltpolitischem Parkett und liebt seinen Herzensklub Roda JC Kerkrade, einen Limburger Zweitligisten, der auch als «Kumpels» bekannt ist.

Auch politisch pflegt Frans Timmermans den Brückenschlag. Dank seines Wirkens als Architekt des Europäischen Green Deal hat er ökologisch ein so starkes Profil wie niemand sonst in der Arbeitspartei. Bei der Präsentation in Den Haag sagt er, er habe lange auf eine «vereinigte Linke» gehofft. Inhaltlich setzt Timmermans darauf, das stark beschädigte Vertrauen der Bevölkerung in die Politik zu erneuern, dazu kommen klassische sozialdemokratische Themen wie Umverteilung, Wohnungsbau, Armutsbekämpfung und Kinderbetreuung. Und, natürlich: Klimaschutz. Wobei er mehrfach betont, dieser gelinge nur, wenn er sozial gerecht sei. «Lasst euch von niemandem erzählen, dass das nicht zusammengehört!»

Rabiater Ton

Frans Timmermans weiss selbstverständlich, dass genau dieses Argument in der niederländischen Rechten zum diskursiven Standard gehört. Massnahmen gegen die Klimaerwärmung werden dort wahlweise als überflüssig, Regelfetischismus oder pure Schikane gegen hart arbeitende Bürger:innen abgelehnt. In diesem Teil der Bevölkerung nennt man den Spitzenkandidaten gerne abschätzig «Klimapapst», und dass er dazu noch aus Brüssel kommt, verstärkt den Argwohn nur: Auch die EU gilt in jenen Kreisen schliesslich vor allem als überflüssige supranationale Zwangsjacke und Timmermans als ihre Personifizierung.

Geert Wilders, identitärer Cheftrommler und Galionsfigur der extrem rechten Partij voor de Vrijheid, bezeichnete Timmermans daher als «das Schlimmste, was den Niederlanden passieren kann». Die populistische Talkshow «Vandaag Inside» kündigte an, Timmermans sei «dran». Der Ton ist gesetzt, und er ist rabiat. Dass der Hoffnungsträger der Linken sich selbst gerne als Brückenbauer sieht, ist eine Sache. In Wahrheit gilt er in der Rechten als eines der grössten Hassobjekte in der politischen Arena. Beeindruckt davon zeigt sich Timmermans bislang aber wenig. Als Green-Deal-Kommissar war er die letzten Jahre auch einiges gewohnt.