Energiepolitik: «Wir leben nicht in einer Diktatur»
SP-Nationalrat Roger Nordmann ist seit zwanzig Jahren eine prägende Figur in der Schweizer Energiepolitik. Nun hat er ein Buch vorgelegt, das einen kompletten Umbau unseres Energiesystems fordert. Klingt radikal, ist es aber nicht.
WOZ: Herr Nordmann, der Wahlkampf nimmt langsam Fahrt auf. Sie steigen mit Ihrem Buch «Klimaschutz und Energiesicherheit» in den Ring. Die Grünen dürften keine Freude daran haben, dass Sie deren Kernthema besetzen.
Roger Nordmann: Das Buch ist ja kein Projekt, um den Grünen im Wahlkampf das Thema Klima- und Energiepolitik streitig zu machen. Ganz im Gegenteil: Es ist als Umsetzungsplan der Klimafonds-Initiative konzipiert, für die wir als SP zurzeit gemeinsam mit den Grünen Unterschriften sammeln. Die Wahlen spielen im Buch überhaupt keine Rolle. Es geht darum, wie die Schweiz mittels massiver Investitionen so rasch wie möglich die Abkehr von fossiler Energie schafft.
Sie beziffern die Investitionen, die dereinst über den neuen Klimafonds laufen sollen, auf 430 Milliarden Franken bis 2050. Das entspricht jährlich rund 17 Milliarden Franken, was etwas über zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts ausmacht. Private, Unternehmen, Kantone und Gemeinden sollen die eine Hälfte übernehmen, die andere der Bund. Das Geld soll vor allem in drei Bereiche fliessen: Wohnen, Industrie und Stromproduktion. Wieso gerade diese drei Bereiche?
Wohnen und Industrie sind heute für einen beträchtlichen Anteil der Treibhausgasemissionen der Schweiz verantwortlich. Im Wohnbereich schaffen wir eine Reduktion, indem wir die Gebäude besser isolieren und die bestehenden Gas-, Öl- und elektrischen Heizungen durch Wärmepumpen und andere nachhaltige Systeme ersetzen. In der Industrie muss es gelingen, fossile Energieträger weitgehend durch Strom zu ersetzen. Ein solches Vorgehen ist zudem auch beim Verkehr nötig. Es braucht also sehr viele Investitionen in die Erzeugung und Speicherung von Strom.
Wollen Sie auch den Kauf von Elektroautos subventionieren?
Nein, eben nicht. Beim Klimafonds geht es nicht um die Finanzierung von Fahrzeugen, sondern um die Sicherung der Stromversorgungskette, um die Einrichtung von Zwischenspeichernetzen und Ladepunkten. Das ist mir ganz wichtig: Mein Umsetzungsplan betrifft nicht die individuelle Ebene, auch wenn es natürlich sinnvoll ist, wenn die Leute weniger Fleisch essen, weniger fliegen und ein kleines E-Auto statt eines dieselbetriebenen SUVs fahren. Der Klimafonds soll aber eine Änderung des ganzen Energiesystems vorantreiben in Bereichen, in denen die Hebel viel grösser sind: weg von den fossilen, hin zu den erneuerbaren Energien. Durch gezielte Investitionen, die letztlich auch den Mieter:innen zugutekommen, weil die Heizkosten bei einer Wärmepumpe weit tiefer sind als bei einer Ölheizung.
Und wie soll der Abschied von den fossilen Energieträgern in der Industrie erreicht werden?
Das ist der Punkt, wo ich während der Arbeit am Buch am meisten gelernt habe. Die Industrie kann massgeblich vom politisch mittlerweile breit abgestützten Ausbau der Solarenergie profitieren. Im Sommer wird die Schweiz künftig zu viel Strom produzieren – im Winter dafür etwas zu wenig. Wenn wir den überschüssigen Strom im Sommer zu Synthesegas – Wasserstoff oder Methan – umwandeln und dann speichern, kann die Industrie im Winter darauf zurückgreifen statt auf den knapp vorhandenen Strom. Somit kann sich die Industrie dekarbonisieren, ohne im Winter den Strombedarf zu erhöhen.
Ihr Klimafonds-Plan sieht einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien vor. Politisch ist ein solcher mittlerweile mehrheitsfähig. Insbesondere bei der Solarenergie drückt die Politik aufs Tempo, letztes Jahr wurde im Dringlichkeitsverfahren das als «Solarexpress» bekannte Gesetz durchgeboxt, das alpine Solaranlagen subventionieren soll. Das Problem dabei: Umweltverbände und Landschaftsschützer:innen kritisieren das hohe Tempo sowie den Ausbau in den Bergen auf Kosten der Natur und der Biodiversität.
Natürlich ist eine Landschaft ohne Solarpanels schöner als eine mit solchen Panels. Aber historisch gesehen gab es schon immer menschliche Eingriffe in die Landschaft. Ich lebe am Genfersee, wo heute im Lavaux unzählige Rebberge stehen. Früher stand dort ein Wald. Bisher waren die Folgen unseres Energiehungers in der Schweiz nur wenig sichtbar, das Gas kam aus Russland, das Öl aus dem Nahen Osten. Die fossile Energie war da, ohne dass wir deren Gewinnung, die mit massiven Eingriffen in die Landschaft verbunden ist, zu Gesicht bekamen. Die bisherige Lebenslüge, dass die Folgen unseres Energiehungers vor unserer Haustür nicht sichtbar sein sollen, ist mit den Erneuerbaren nicht mehr möglich. Das mahnt uns als Gesellschaft zu einem effizienten und sparsamen Gebrauch. Wir müssen rasch handeln. Die Klimaerwärmung schadet der Biodiversität und verändert rasch die Landschaft, man denke an die schwindenden Gletscher.
Es gibt ja auch scharfe Kritik von staatsrechtlicher Seite, die das hohe Tempo der Bewilligungsverfahren fragwürdig findet.
Die Kritik wurde durchaus ernst genommen. Der Nationalrat hat den «Solarexpress» abgefedert, nachdem der Ständerat zu forsch gewesen war. Anders als dieser vorgesehen hatte, bedingt der Bau von Solaranlagen weiterhin eine vorgängige Umweltverträglichkeitsprüfung, und es gibt immer noch definierte Schutzzonen, wo nichts gebaut werden darf. In der Umsetzungsphase zeigt sich jetzt ausserdem: Die alpinen Solarparks, wie etwa das Projekt Grengiols im Wallis, werden viel kleiner ausfallen als ursprünglich geplant und sich auf Gebiete konzentrieren, wo es bereits Infrastruktur wie Strassen oder Skilifte gibt, nur schon, weil es dort billiger ist. Wir brauchen künftig solche Solaranlagen, um im Winter genügend Strom zu produzieren. Der Ertrag pro Panel ist in den Alpen im Winter wesentlich höher als im Mittelland.
Trotzdem: Am Ende könnte eine unheilige Allianz aus ökologischen Organisationen und der SVP aus ideologischen Gründen alle Projekte blockieren. Dann stehen statt Solaranlagen und Windparks künftig neue AKWs in der Schweiz. Das können Sie doch nicht wollen?
Nein, diese Gefahr besteht meines Erachtens nicht. Energieminister Albert Rösti weiss sehr gut, dass der Bau eines neuen AKW nicht möglich ist – schon gar nicht innerhalb nützlicher Frist. Welcher Standort soll dafür überhaupt infrage kommen? Der Widerstand wäre gewaltig. Und im Sommer besteht wegen der Erderwärmung ein immer grösseres Problem mit der Kühlung der Reaktoren. Unsere Gewässer sind zunehmend zu warm dafür. Aus diesem Grund hat erst kürzlich der Chef des Netzbetreibers im äusserst atomfreundlichen Frankreich gesagt, es führe kein Weg am Ausbau der Erneuerbaren vorbei. Aber das Thema hat leider das Potenzial, genau diesen Ausbauprozess zu bremsen und zu blockieren. Die Debatte ist gefährlich – auch wenn neue AKWs völlig unrealistisch sind.
Ihr Buch besteht im Wesentlichen aus zwei Teilen. Zunächst beschreiben Sie anschaulich und klar, dass der Ausstieg aus den fossilen Energien zwingend ist, um unseren Planeten lebenswert zu erhalten, ebenso beschreiben Sie die grosse Verantwortung des Globalen Nordens für die sich zuspitzende Klimakrise. Diese radikale Analyse findet im zweiten Teil aber keine radikale Entsprechung: Sie wollen netto null 2050 und wollen doch mit neuer Technologie und erneuerbaren Energien einfach so weitermachen wie bisher …
Ich kenne diese Kritik, dass es viel zu langsam gehe und ich zu wenig radikal sei angesichts der Auswirkungen der Klimakrise. Aber wir leben nicht in einer Diktatur, bei uns müssen die Bürger:innen mitgenommen und überzeugt werden. Und das ist eine sehr grosse Herausforderung. Es war mein zentrales Ziel, mit meinem Buch einen konkreten Handlungsansatz vorzuschlagen. Der Weg ist steinig, aber praktizierbar. Insofern ist mein Buch optimistisch und auch als Statement gegen die Endzeitstimmung, die gewisse Kreise verbreiten, zu verstehen. Die Schweizer Bevölkerung hat kürzlich mit sechzig Prozent das Klimaschutzgesetz angenommen, das die Klimaneutralität für 2050 vorsieht. Also ist das ein sinnvoller, demokratisch legitimierter Zeitrahmen. Jetzt geht es um die Umsetzung. Die Aufgabe ist gewaltig.
Ein grosses Problem ist in Ihrem Plan nicht berücksichtigt: Der Schweizer Finanzplatz, weltweit einer der grössten, investiert weiterhin in fossile Energien und befeuert damit den Ausstoss von Treibhausgasemissionen.
Ja, die Schweiz steht mit ihrem grossen Finanzplatz besonders in der Verantwortung, da sie beeinflussen kann, wie Investitionen global getätigt werden – insbesondere im Rohstoff- und Energiebereich. Wir sind derzeit gemeinsam mit interessierten Organisationen dabei, eine entsprechende Volksinitiative zu erarbeiten, aber noch ist nichts spruchreif.