Kommentar von Çiğdem Akyol : Der König bleibt stumm

Nr. 37 –

Das Beben in Marokko hat eine hochpolitische Komponente. Statt rasch Hilfe zu ermöglichen, verfolgt Mohammed VI. seine nationalistische Agenda.

Als die Erde bebte, hielt sich Mohammed VI. in Paris auf. Marokkos König besitzt im Land der einstigen Kolonialherren eine 1600 Quadratmeter grosse Luxusvilla direkt am Eiffelturm. Wegen seiner Zurückhaltung nennen sie ihn in Frankreich «König wider Willen». Wie gut der Spitzname passt, zeigte sich nun angesichts der verheerenden Katastrophe. Einen Tag nach dem Erdbeben wurden im Fernsehen Bilder gezeigt, wie Mohammed VI. in seinem Palast in Rabat eine Krisensitzung leitete. Die Szenen dauerten nur wenige Sekunden und wurden ohne Ton ausgestrahlt. Während Politiker:innen auf der ganzen Welt den Menschen im nordafrikanischen Land ihr Beileid bekundeten, blieb der König stumm.

Mindestens 2900 Menschen starben beim Erdbeben in der Nacht zum Samstag. Es war das verheerendste Erdbeben in Marokko seit 1960, als mindestens 12 000 Menschen ums Leben gekommen waren. Dennoch reisten weder der König noch sein Ministerpräsident Aziz Akhannouch bislang in die betroffenen Gebiete. Stattdessen wurde als eine der ersten Massnahmen eine dreitägige Staatstrauer angeordnet. Auch wurden internationale Helfer:innen erst nach zwei Tagen ins Land gelassen. Dabei ist bekannt, dass die ersten 48 Stunden nach einer solchen Katastrophe entscheidend sind, um Menschenleben zu retten.

Mehr als sechzig Länder boten ihre Hilfe an. Selbst der lokale Rivale Algerien kündigte an, seinen seit 2021 geschlossenen Luftraum für Hilfsflüge zu öffnen. Die Entscheidung des Königs, nur Helfer:innen aus Spanien, Grossbritannien, Katar und den Vereinigten Arabischen Emiraten ins Land zu lassen, sorgte für Unverständnis. Warum nicht auch Personal aus Frankreich, wo zahlreiche marokkanische Auswander:innen leben?

Die Regierung in Rabat versucht nach eigener Aussage, einen Katastrophentourismus zu vermeiden. Dennoch ist der politische Hintergrund für diesen Entscheid offensichtlich: Auch in Zeiten der Not gibt sich der Regent lieber mit sympathisierenden Monarchien ab. Spanien schwenkte im vergangenen Jahr als einziges EU-Land im Konflikt um die Westsahara auf den Kurs Marokkos ein. Paris hingegen erkennt den marokkanischen Anspruch auf das Gebiet nicht an. Zudem versucht Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, sich dem Erzfeind Algerien anzunähern. Die Emirate waren das erste arabische Land, das 2020 eine diplomatische Vertretung in der seit 1976 von Marokko annektierten Westsahara eröffnete. Das Emirat Katar ist ein wichtiger Handelspartner Marokkos.

Kein Staatsmann, keine Regierungschefin kann einen Sturm oder Dürreperioden auslösen. Dennoch haben solche Naturkatastrophen eine hochpolitische Komponente. Hätten mehr Menschen im Februar das Erdbeben im türkisch-syrischen Grenzgebiet überleben können, wenn die Verantwortlichen auf die Einhaltung geltender Baunormen geachtet hätten? Die Antwort ist ein eindeutiges Ja.

Bei den jetzigen Überschwemmungen in Libyen ist derzeit noch offen, ob marode Staudämme die Katastrophe verschlimmert haben. Die Behörden rechnen bei Redaktionsschluss mit weit über 5000 Toten. Ein Überblick über das Ausmass der Zerstörung ist angesichts der chaotischen Lage im Land, wo sich rivalisierende Milizen mit den Grossmächten Russland, Türkei und Frankreich im Rücken bekämpfen, schwer zu gewinnen.

In Marokko ist die nationalistische Reaktion von Mohammed VI. verheerend. Tagelang waren Zehntausende Menschen in den Bergdörfern von der Hilfe abgeschnitten. Die Menschen mussten ihre Nachbar:innen mit blossen Händen aus den Trümmern befreien. Die Linderung des Leids wäre die Aufgabe der Regierung, doch ist sie dieser nicht gewachsen. Irgendwann jedoch werden die Menschen wissen wollen, warum die Hilfe so spät kam. Spätestens dann muss sich der «König wider Willen» erklären. Sollte er wieder abtauchen, könnte ihm das politisch schaden. Denn vor allem in den nun betroffenen ländlichen Gebieten gibt es islamistische Gruppen, die den Monarchen nicht als Führer anerkennen – und die nun auf Zulauf hoffen.