Westsahara: Ein Lehrstück über Recht und Macht
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron akzeptiert den Anspruch Marokkos auf die Westsahara. Damit düpiert er Algerien – und übergeht das Völkerrecht.
Das schönste Geschenk machte ihm die frühere Kolonialmacht. Mohammed VI., König von Marokko, feierte am 30. Juli den 25. Jahrestag seiner Thronbesteigung. Zu diesem Anlass erhielt er einen Brief von Emmanuel Macron, der nicht nur die für diplomatische Grussbotschaften üblichen Floskeln enthielt, sondern ein weitreichendes Zugeständnis: «Ich bin der Ansicht», schrieb der Präsident Frankreichs, «dass Gegenwart wie Zukunft der Westsahara im Rahmen der marokkanischen Souveränität zu sehen sind.»
Zunächst ein Blick zurück in die Geschichte: Spaniens Diktator Francisco Franco lag 1975 schon auf dem Sterbebett, als die marokkanische Armee auf Befehl von König Hassan II., dem Vater des heutigen Monarchen, die spanische Kolonie Westsahara besetzte. 1976 annektierte Marokko völkerrechtswidrig die nördlichen zwei Drittel des Gebiets am Atlantik, das fast so gross ist wie Italien, und 1979 auch den Rest, nachdem der Nachbarstaat Mauretanien dort seine Truppen abgezogen hatte.
Schattenstaat in der Wüste
Die marokkanische Armee sah sich nach ihrem Einmarsch mit dem bewaffneten Widerstand des Frente Polisario konfrontiert, einer von Algerien unterstützten Guerilla der Sahrauis, der autochthonen arabischen Bevölkerung der Region. Nach sechzehn Jahren Krieg unterzeichneten die Parteien 1991 einen Waffenstillstand. Seither kontrolliert Marokko die westlichen vier Fünftel der Westsahara mit den wenigen Städten, den fischreichen Küstengewässern und den riesigen Phosphatvorkommen. Der Polisario kontrolliert das östlichste, an Mauretanien und Algerien grenzende Fünftel mit einigen Oasen. Jenseits der Grenze, in der algerischen Wüste, wohin über 100 000 Sahrauis geflohen sind, hat er einen Schattenstaat errichtet, die Demokratische Arabische Republik Sahara.
1991 beschloss der Uno-Sicherheitsrat die Einrichtung der Mission Minurso: Sie erhielt das Mandat, ein Referendum durchzuführen. Die Sahrauis sollten selbst entscheiden, ob sie unter marokkanischer Herrschaft leben wollten. Doch ein Referendum fand nie statt. Stattdessen präsentierte Marokko 2007 einen Plan, der zwar weitreichende Autonomie für die Westsahara vorsieht, einen unabhängigen Staat der Sahrauis aber kategorisch ausschliesst.
Das Völkerrecht ist auf der Seite der Sahrauis, die Macht auf jener Marokkos. Spanien, das zunächst auf der Seite des Rechts stand, dann lange Zeit eine neutrale Position einnahm, hat sich vor drei Jahren auf die Seite der Macht geschlagen. Als 2021 der Polisario-Chef Brahim Ghali zur Behandlung nach Spanien reiste, wo er trotz zweier dort laufender Strafverfahren nicht verhaftet wurde, tobte die marokkanische Presse. Die Regierung Marokkos reagierte, indem sie die Grenzkontrollen vor Ceuta, einer spanischen Exklave auf afrikanischem Boden, abzog. Es dauerte nicht lange, bis Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez einknickte und den marokkanischen Autonomieplan als «die ernsthafteste, realistischste und glaubwürdigste Basis für eine Lösung des Streits» bezeichnete.
Hochspannung und Atommeiler
Noch weiter ging jetzt Macron in seinem Brief. Er schrieb, dass der marokkanische Autonomieplan für Frankreich «von nun an die einzige Basis ist, um zu einer gerechten, dauerhaften und ausgehandelten politischen Lösung zu gelangen».
Macrons Zugeständnis ist vermutlich mit der Hoffnung verbunden, sich Zugang zu Rohstoffen zu sichern und auf dem Sektor erneuerbarer Energie zusammenzuarbeiten. Frankreich hat Marokko jüngst angeboten, sich an der Finanzierung eines neuen Hochspannungsleitungsnetzes zu beteiligen. Dieses soll künftig Strom aus noch zu errichtenden Windparks bei Dakhla, der zweitgrössten Stadt der Westsahara, nach Casablanca liefern. Auch schlug Frankreich seiner früheren Kolonie vor, in Marokko Atommeiler zu bauen.
Noch ist unklar, wie hoch der Preis sein wird, den Frankreich für seine Neupositionierung in der Westsaharafrage zu bezahlen hat. Denn für Algerien stellt sie eine Provokation dar. Dabei mag sie Macron umso leichter gefallen sein, als er mit seinem langjährigen Werben für eine Aussöhnung mit dem Land, das im Unabhängigkeitskrieg 1954–1962 etwa 300 000 Todesopfer zu beklagen hatte, immer auf Granit biss. Doch wird Algerien nun weiterhin monatlich 200 aus Frankreich ausgewiesene Bürger:innen aufnehmen? Werden die algerischen Geheimdienste im Kampf gegen islamistischen Terror weiterhin mit den französischen kooperieren?
Und auch wenn die internationale Unterstützung für den Frente Polisario bröckelt – noch stösst Marokko auf Widerstand. Ein neues Fischereiabkommen mit der EU kam bisher nicht zustande, nachdem der Europäische Gerichtshof das vor einem Jahr abgelaufene Abkommen zum Teil für nichtig erklärt hatte. Marokko, so die europäischen Richter:innen, habe kein Recht, über den Fischfang vor der Küste der Westsahara zu verhandeln, weil diese völkerrechtlich nicht zu Marokko gehöre.
Seit über dreissig Jahren verlängert der Uno-Sicherheitsrat jedes Jahr das Mandat für die Minurso um ein weiteres Jahr. In der letzten Resolution vom Oktober 2023 ist, wie seit geraumer Zeit schon, nur noch von Selbstbestimmung die Rede; das Wort Referendum fehlt. Aber immerhin wurde die Mission nicht umbenannt. Sie heisst weiterhin Minurso. Die Abkürzung steht für «Mission des Nations Unies pour l’organisation d’un référendum au Sahara occidental».