«Disco Boy»: Wenn Reales und Imaginäres verschmelzen
Alles fliesst im Erstlingsfilm von Giacomo Abbruzzese: Grenzen, Identitäten, Seelen gar. Was nachwirkt, ist die verstörende Faszination der Fremdenlegion.
Ob er bereit sei, Risiken einzugehen? «Wer Angst hat, bleibt zu Hause», gibt Aleksei dem Rekrutierer der Fremdenlegion zurück. Als ob das nicht seine Meinung, sondern unverrückbare Tatsache wäre. Letzteres gilt allerdings auch für die Risiken.
Der Legion ist es vollkommen gleichgültig, ob einer zuvor «Anwalt, Rotarmist, obdachlos oder Faschist» war – hier bekommt nach fünf Jahren Todesgefahr und mindestens zum Preis der Seele jeder die Chance auf einen französischen Pass mit französischem Namen. Identität und Sicherheit sind nicht gratis zu haben, schon gar nicht in jenem Europa, das sich die scheinbare Integrität seiner Aussengrenzen jedes Jahr mit Tausenden von ertrunkenen Menschen erkauft, die nichts mehr wollen als eine ähnliche Chance und die – mit oder ohne Angst – nicht zu Hause bleiben.
Auch «Disco Boy», der erste Film von Giacomo Abbruzzese, bleibt in keiner Art und Weise zu Hause, sondern träumt sich fiebrig, quer durch Europas Verdrängungslandschaften und hauptsächlich über den Körper von Franz Rogowski, der den Weissrussen Aleksei spielt. Er beginnt an der belarusisch-polnischen Grenze, im Bus, der die singenden Fussballfans über die Grenze zu einem Spiel in Polen bringt. Aleksei und ein Freund indes haben andere Pläne: Sie setzen sich ab, um sich nach Frankreich durchzuschlagen, doch der Freund ertrinkt in der Oder. Wenig später taucht Aleksei vor dem Rekrutierer auf, der ihm versichert, dass sein Sans-Papiers-Status bei der Legion – sollte er sich deren Anforderungen würdig erweisen – kein Problem darstellen wird.
Jenseits soziologischer Realitäten
Die Prioritäten sind damit offengelegt – sowohl die pragmatischen des französischen Neokolonialismus als auch jene des Regisseurs, der sich weder mit Geografie und geopolitischen Details aufhält noch mit klassischer Figurenentwicklung. Aleksei ist für den Film das Gleiche wie für die Legion: ein kräftiger Körper in rast- und orientierungsloser Bewegung, der vom Ausbildner (und vom Filmemacher, der diesem bezeichnenderweise die Stimme leiht) in eine zweckmässige Bahn gelenkt wird. Wobei der Zweck darin besteht, französische Interessen zu wahren, im Nigerdelta, wo eine militante Autonomiebewegung namens MEND gerade eine Gruppe von Franzosen gekidnappt hat, die vielleicht oder vielleicht auch nicht in Verbindung mit den unzähligen Raffineriegasfackeln stehen, die den Horizont hinter dem Urwald säumen.
Die Art, wie Regisseur Abbruzzese und Kamerafrau Hélène Louvart dieses nigerianische Hinterland inszenieren, wirkt mitunter etwas gar exotisierend – als hätte der Diskurs um solche Ästhetiken seit Jean Rouchs «Les maîtres fous» (1955) keine nennenswerten Fortschritte gemacht. Das hier vermittelte Afrikabild scheint eher dem postkolonialen Imaginären entsprungen als den gegenwärtigen soziologischen Realitäten, was wiederum auch für alle anderen Landschaften des Films gilt, von Belarus über die Fremdenlegion bis zur unterweltlich vibrierenden Pariser Partyszene. Nein, in «Disco Boy» geht es nicht um irgendwelche soziologischen Realitäten, sondern um eine Art Einbruch verschiedener peripherer Fantasien in einen überstilisierten zentraleuropäischen Kontext, dessen Grenzen auf allen Ebenen poröser sind, als deren Verteidiger:innen es wahrhaben wollen.
Sich entziehen oder hingeben?
Alles fliesst in «Disco Boy»: die reissenden Grenzflüsse, die Identitäten, der Schnitt und die düstere Elektromusik von Vitalic, die alle Bilder und Körper mit einer Energie auflädt, die sich anderswo wieder entladen muss; vorzugsweise in Tanz oder Gewalt. Die zentrale Szene des Films, ein Zweikampf, findet im Wasser statt und wird gänzlich von einer Wärmebildkamera wiedergegeben, die Körper, Seelen und Umgebung ineinander verschmelzen lässt. Die Nachwirkungen sind traumatisch, aber auch identitätsbildender, als es der Pass mit neuem französischem Namen sein könnte. Und neue Identitäten führen zu neuen, unvorhersehbaren Handlungen, Weigerungen und Begehren, mit deren Wirkungen sich dann die zweite Hälfte des Films beschäftigt, dabei jegliches Konzept einer Grenze zwischen Realem und Imaginärem hinter sich lassend.
Eine kritische Analyse in der Art, wie exotisch hier erneut ein afrikanisches Land und dessen Einwohner:innen dargestellt werden, oder wie sich hier, nach «Beau travail» (1999) von Claire Denis und «Human Flowers of Flesh» (2022) von Helena Wittmann, erneut ein Film zu grossen Teilen der unheimlich-erotischen Faszination der Fremdenlegion hingibt, läuft bei «Disco Boy» mehrheitlich ins Leere. Mag er von diesen drei Filmen auch der am wenigsten ausgereifte sein, vermag er mittels treibender Musik, rauschartigen Bildern und der gefängnistätowierten Körperlichkeit von Rogowski einen Sog zu entwickeln, dem man sich kaum entziehen kann.
Bedingung dafür ist allerdings, sich diesem Sog ein Stück weit hinzugeben: die inneren Grenzwärter für einen Moment abzuziehen, um zu erkennen, dass am Ende auch die eigene Aussengrenze nichts als Fiktion ist. Wer Angst hat, bleibt zu Hause.
«Disco Boy». Regie: Giacomo Abbruzzese. Belgien, Frankreich, Italien, Polen 2023. Jetzt im Kino.