Lettland: Loyal ist nur, wer Lettisch spricht

Nr. 38 –

Ein Gesetz verlangt, dass ein Teil der im baltischen Land lebenden russischen Staatsbürger:innen einen Sprachtest absolvieren. Für die Betroffenen ist der Druck riesig.

Portraitfoto von Liudmila Sokol
Hat den Sprachtest noch nicht bestanden: Liudmila Sokol kam vor fast fünfzig Jahren von Belarus in die lettische Stadt Daugavpils.

Etwas verloren sitzen die achtzehn älteren Frauen und Männer in den Zweierbänken des übergrossen Schulungsraums. Es riecht nach frischer Farbe, die Fenster stehen offen. Vom Innenhof des mehrstöckigen Gebäudes im Zentrum von Daugavpils hört man Möwen schreien und Kinder lachen.

Verkehrte Welt. Während die Kinder draussen herumtoben, sind Menschen, die ihre Grosseltern sein könnten, wieder in der Schule. Die Lettischlehrerin – neongrüner Rock, blonde Haare, strenger Blick – versucht, ihrer Klasse die lettische Grammatik einzubläuen. Sie meint es gut mit ihren betagten Schüler:innen, wenn sie sagt: «Wenn Sie nicht lernen wollen, müssen Sie gar nicht erst hierherkommen. Dann verschwenden Sie Ihre Zeit.» Aber auf solche Sätze hin erhebt sich ein nervöses Tuscheln. Niemand ist freiwillig hier.

Mehr als ein Drittel der lettischen Bevölkerung spricht Russisch. Ein Erbe der Sowjetzeit, als eine bewusste Russifizierung vorangetrieben wurde und Menschen aus Russland, der Ukraine und Belarus zur Arbeit nach Lettland kamen. In Daugavpils, der mit 93 000 Einwohner:innen zweitgrössten Stadt Lettlands, ist die Minderheit in der Mehrheit. In der nur zwei Stunden Autofahrt von der russischen und eine halbe Stunde von der belarusischen Grenze entfernten ruhigen Provinzstadt wird fast nur Russisch gesprochen. Die gemusterten Röcke der Frauen, die prächtig renovierten orthodoxen Kirchen, die Ticketverkäuferinnen im Tram – das alles könnte genauso gut auf der anderen Seite der Grenze zu finden sein. Alte Strassenschilder sind immer noch zweisprachig, ab und zu sieht man sogar ein kyrillisch angeschriebenes Geschäft, die absolute Ausnahme im Land.

«Das war ein richtiger Schock»

In Lettland gibt es nur eine Nationalsprache, und das ist Lettisch. Seit der Unabhängigkeit und spätestens seit der Annexion der Krim 2014 versucht die Regierung, das Land sprachlich zu vereinheitlichen. Schulen sollen nach und nach nur noch auf Lettisch unterrichten, alle öffentlichen Dienstleistungen nur noch auf Lettisch angeboten werden. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine kann es der Politik aber nicht schnell genug gehen. Alle sollen Lettisch sprechen. Wer es nicht tut, stellt in ihren Augen ein Sicherheitsrisiko dar.

«Diesen Brief habe ich am 18. April erhalten.» Liudmila Sokol, eine 64-jährige Frau mit kurzen, blonden Haaren und einem goldenen Kreuz um den Hals, hat zu Tee und Keksen eingeladen. «Das war ein richtiger Schock», fügt sie hinzu und legt das offizielle Schreiben auf den Tisch, ein unscheinbares Dokument, zerknittert und leicht eingerissen. Auf Lettisch steht da, dass Liudmila Sokol bis zum 1. September einen lettischen Sprachtest auf A2-Niveau bestehen muss. Ansonsten laufe am 1. Dezember ihre Aufenthaltserlaubnis aus.

Den gleichen Brief haben knapp 25 000 Personen im ganzen Land erhalten. Es ist ein verhältnismässig kleiner Teil der russischsprachigen Bevölkerung, denn das neue Gesetz betrifft nur diejenigen, die sich seit 2001 dafür entschieden haben, zur russischen Staatsbürgerschaft zu wechseln. Es geht um Loyalität in Zeiten eines Krieges, der praktisch vor Lettlands Haustür stattfindet. Und Loyalität wird an der Sprache festgemacht.

«Oft wird mir die Frage gestellt, wie es sein kann, dass man dreissig Jahre in Lettland lebt und nie die Sprache gelernt hat», sagt Olga Petkowitsch. Die ehemalige Journalistin ist ebenfalls zum Treffen mit Liudmila Sokol gekommen. Seit diesem Frühjahr engagiert sie sich gegen das neue Gesetz, unter anderem, indem sie in den sozialen Medien auf die Thematik aufmerksam macht. Sie wird nicht müde, die politischen Argumente ad absurdum zu führen: «Man hatte, wenn man in einer Stadt lebt, in der vor allem Russisch gesprochen wird, nie einen Grund, die Sprache zu lernen!»

So auch Liudmila Sokol. Mit sechzehn Jahren ist sie aus Belarus nach Daugavpils gezogen, hat hier geheiratet, zwei Kinder grossgezogen und ihr Leben lang als Reinigungskraft gearbeitet. An der Wand ihrer Wohnung im dritten Stock hängen alte Familienfotos aus Belarus, eines mit dem Akkordeon auf der Datscha, eines ihrer Grosseltern, ernst und hager.

Seit 34 Jahren wohnt Sokol zusammen mit ihrem Mann in dieser Wohnung in einem nördlichen Vorort von Daugavpils namens Jaunā Forštate, zu Deutsch «Neuvorstadt». In den Achtzigern aus der Erde gestampft, ist das Viertel geprägt von niedrigen, bunten Holzhäusern und sowjetischen Wohnblöcken. Und es ist geprägt von einer Bevölkerung, die zum Grossteil während der Sowjetzeit aus Belarus hierhergezogen ist. «Deshalb nennen wir es auch Scharkowtschina», sagt Liudmila Sokol lachend. Scharkowtschina ist ein Städtchen in Belarus, nicht weit von der Grenze entfernt.

Mit zwei dicken Ordnern voller Dokumente und Lettischübungen setzt sich die ältere Frau aufs graue Sofa im Wohnzimmer, Katzenhaare wirbeln auf. Es riecht nach schwarzem Tee und Erdbeerkonfitüre. Sie hat auch ihre Pässe hervorgekramt. «Bis 2011 hatte ich einen Nichtbürgerpass», sagt sie und zeigt den durchlochten blauen Pass. Wie ein Grossteil der russischsprachigen Bevölkerung, die keine Vorfahren vor 1940 in Lettland nachweisen konnte, hatte Liudmila Sokol nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Lettlands keinen lettischen, sondern einen Nichtbürgerpass erhalten. Damit konnte sie zwar dauerhaft in Lettland leben, aber nicht wählen.

Als es Mitte der nuller Jahre für Nichtbürger:innen wie Liudmila Sokol möglich wurde, vereinfacht die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten, ergriffen viele diese Möglichkeit. «Auch, um überhaupt Bürgerin eines Landes zu sein», so Olga Petkowitsch. 2011 beantragte Sokol einen russischen Pass. «Ich habe überhaupt keine Beziehung zu Russland», stellt sie klar und reicht den russischen Pass herum. Das einzige Mal sei sie vor 42 Jahren in Russland gewesen. «Aber mit dem russischen Pass konnte ich ohne Visum nach Belarus reisen. Dort sind die Gräber meiner Eltern.» Ausserdem erhielt sie eine monatliche Rente – und zwar mit 55 Jahren um einiges früher als in Lettland. Die hundert Euro waren ein willkommener Zuschuss zum ohnehin schmalen Budget.

Die Brückenbauerin

2011, als Liudmila Sokol die russische Staatsbürgerschaft annahm, da war die Welt scheinbar noch in Ordnung. Die Krim gehörte noch zur Ukraine, und Lettland pflegte eine distanziert höfliche Beziehung zu Russland. 2011 hätte Sokol nie gedacht, dass der russische Pass einmal ihre Loyalität zu Lettland infrage stellen könnte. Etwas, das sie persönlich trifft: «Ich gehöre doch auch hierhin», sagt sie und zieht mehrere Blätter aus einer durchsichtigen Mappe. Es ist der gesetzlich verlangte Sprachtest, den sie vor kurzem gemacht hat. Er besteht aus vier Teilen, in allen muss eine Mindestpunktzahl erreicht werden. Am Schluss ist sie wegen eines einzigen Punkts durchgefallen. Ihr bleiben noch weitere Versuche. Sie ist unsicher, ob sie durchkommt. «Aber noch habe ich die Hoffnung nicht verloren.»

«Es ist einfach sehr wenig Zeit», findet Inna Plawoka. «Alte Menschen wie zum Beispiel meine Mutter, die 74 Jahre alt ist, können keine Sprache in einem halben Jahr lernen.» Die Chefredaktorin des lokalen Onlinemediums «Chayka» sitzt in der Lampa Café Bar, einem der wenigen hippen Lokale in Daugavpils, im Hintergrund wummernde Beats. Junge Leute in der Stadt zu sehen, ist ungewöhnlich, denn viele sind weggezogen, nach Riga oder gleich ins Ausland. Und die Alten sind es, die vom neuen Gesetz betroffen sind. Zwei Drittel sind zwischen 60 und 75 Jahren alt, zwei Drittel sind Frauen.

Inna Plawoka ist eine Brückenbauerin. In Daugavpils aufgewachsen, vertritt sie eine westlichere, man könnte sagen eine lettischere Position als viele Einwohner:innen der Stadt. Das von ihr gegründete Magazin «Chayka» war das einzige russischsprachige Medium in der Gegend, das den Krieg von Anfang an als solchen benannte und darüber berichtete. Mit dem sowjetischen Denkmal, das noch immer im Stadtpark steht, kann sie nicht viel anfangen. Die Schuld für die jetzige Situation sieht sie auch ein wenig bei der russischsprachigen Bevölkerung. «Wir haben uns nie darum gekümmert, Lettisch zu lernen», sagt sie.

Aber sie kann sich auch noch sehr gut an die Werbekampagne der russischen Botschaft erinnern. Nichtbürger:innen wurden regelrecht umworben. «In den Zeitungen, im Fernsehen, auf Plakaten: Überall hat Russland die Vorteile der Staatsbürgerschaft angepriesen.» Es war ein Tauziehen, das Lettland verlor, weil es weniger attraktive Bedingungen anbot. Weil es den Leuten nicht um Loyalität ging, sondern nur darum, ein gutes Leben zu führen.

Während es in der Hauptstadt Riga kostenlose Sprachkurse gibt, werden solche in Daugavpils nur für Arbeitslose angeboten. Senior:innen müssen die Kurse selbst bezahlen. Bei einer Pension von 100 bis 140 Euro im Monat sind die Kurskosten von 150 Euro ein kleines Vermögen.

Zweimal pro Woche versammelt sich im Weiterbildungszentrum Latinsoft eine zwanzigköpfige Gruppe, mit einer Ausnahme alles Frauen über sechzig. Nicht nur, um Lettisch zu lernen. Dass der Test am Computer stattfindet, ist für viele ein ebenso grosser Stressfaktor. Den sechs Frauen, die in der Pause zwischen den Unterrichtsstunden ohne Unterbrechung auf die beiden Journalistinnen einreden, ist die Panik anzuhören. «Ich habe zu Hause weder Handy noch Computer», erzählt eine kleine Frau mit hellblauen Augen, die auf dem Dorf lebt. «Ich habe so Angst, dass ich deshalb den Test nicht bestehen werde.»

Furcht und Spekulation

Zwei Monate später, am 1. September, wird bekannt, dass 61 Prozent der Russ:innen in Lettland den Sprachtest bislang nicht bestanden haben. Diejenige Hälfte der Betroffenen, die sich gar nicht erst für den Test angemeldet hatte, erhielt einen Brief mit der Aufforderung, das Land innert neunzig Tagen zu verlassen. Das lettische Parlament hat nun in allerletzter Minute die Frist für den Sprachtest um zwei weitere Jahre nach hinten verschoben. Es bleibt unklar, was mit jenen geschieht, die den Test bis dann nicht bestehen. Auch ist offen, wie der Staat mit jenen verfährt, die das Land nicht freiwillig verlassen wollen.

Das können die Frauen in der Sprachschule Latinsoft zwei Monate zuvor noch nicht wissen. Die Ungewissheit ist aber schon zu diesem Zeitpunkt zermürbend. Und schafft Raum für Furcht und Spekulation. Geschichten über Menschen, die Suizid begangen hätten oder sich in die Psychiatrie hätten einweisen lassen, nur um dem Test zu entgehen, machen die Runde. «Wir haben nichts gegen die Politik», betonen einige der Frauen noch, bevor der Unterricht weitergeht, «die junge Generation soll Lettisch lernen. Schliesslich leben wir in Lettland. Aber wir haben etwas dagegen, wie unverhältnismässig mit uns umgegangen wird.»

Diese Recherche wurde von «Junge Journalistinnen und Journalisten Schweiz» unterstützt.