Sozialpolitik in Russland: «Wir brauchen doch nicht so viele kluge Menschen!»
Der russische Staat legt mit «Effektivierungsmassnahmen» Schulen, Akademien und Krankenhäuser zusammen. Das Recht der Bevölkerung auf kostenlose Bildung und medizinische Versorgung wird dadurch stark aufgeweicht. Doch langsam flackert Widerstand auf.
Jeden Morgen ist vor der neuen Privatschule President an der Iljinskoje-Chaussee im Westen Moskaus das gleiche Bild zu sehen: Grosse, schwarze Limousinen fahren vor und bringen die Kinder aus den anliegenden Villenvierteln zur Schule. In dieser Schule ist alles vom Feinsten. Aussen zieren weisse Säulen und ein schlossartiger Turm das Gebäude. Innen werden die Kinder mit modernen Montessori-Lehrmethoden unterrichtet, sie haben ein Schwimmbad zur Verfügung und erhalten Theater-, Musik- und Gymnastikkurse. Englischunterricht gibt es bereits ab der ersten Klasse, eine zweite Fremdsprache ab der fünften Klasse. Diese Schule – die den Kindern auch medizinische Kontrollen, Impfungen und Massagen bietet – kostet die Eltern umgerechnet 3200 Franken im Monat.
Auf die Frage, ob denn die Kinder hier nicht zu isoliert von der Gesellschaft aufwachsen, antwortet die Pressesprecherin der Schule: «Wir erziehen hier keine Egoisten.» Schliesslich gebe es regelmässige Kontakte mit Waisenhäusern. Und auch bei Sportwettkämpfen kämen die SchülerInnen mit Kindern aus anderen sozialen Schichten zusammen.
President ist nicht die einzige Privatschule in den westlich von Moskau gelegenen Villenvierteln. Im Gebiet um die Iljinskoje- und Rubljowskoje-Chaussee leben – hinter hohen Zäunen und Schlagbäumen und von privaten Sicherheitsdiensten bewacht – viele Millionärinnen und Milliardäre. Sie sind der Meinung, dass ihre Kinder in gewöhnlichen Schulen nicht genug gefördert werden.
LehrerInnen mit Vieh
Von üppigen Einnahmen, wie sie die Privatschule President generiert, kann die Dorfschule von Jermakowo nur träumen. Das Dorf liegt fünf Autostunden nordöstlich von Moskau in einer sattgrünen Hügellandschaft mit verwilderten Wiesen und Wäldern. Die Kinder der Schule werden aus einem Umkreis von 27 Kilometern mit einem gelben Schulbus eingesammelt. Der Busfahrer werde jeden Morgen von der Schulkrankenschwester daraufhin kontrolliert, ob er nüchtern sei, berichtet einer der Schullehrer, denn ohne es offen zuzugeben, wissen alle, dass in russischen Dörfern Alkoholismus ein grosses Problem ist.
Die Gehälter der LehrerInnen in Jermakowo lägen zwischen 250 und 555 Franken pro Monat, sagt der stellvertretende Schulleiter Nikolai Wostrilow, der zum Gespräch mit der WOZ das ganze Kollegium im Lehrerzimmer versammelt hat. Auf die Frage, ob man von diesem Lohn denn leben könne, antworten die PädagogInnen, dass sie alle zu Hause Vieh im Stall hätten. Ausserdem werde das ganze Jahr über geerntet: Kartoffeln und Kohl von den eigenen Feldern, Beeren und Pilze aus dem Wald.
Die Schule hat heute 58 SchülerInnen. In den siebziger Jahren waren es 400. Doch die Zahl der DorfbewohnerInnen nimmt seit Jahren ab. Während vor vierzig Jahren 2500 Personen in Jermakowo lebten, sind es heute noch 700. Die Jugend zieht es in die Städte, denn im Dorf gibt es kaum Arbeit. Das kleine Krankenhaus des Orts wurde schon vor zehn Jahren zugemacht. Und weil letztes Jahr auch die Geburtsklinik im dreissig Kilometer entfernten Bezirkszentrum Poschechonje geschlossen wurde, müssen die Frauen zum Entbinden jetzt in die hundert Kilometer entfernte Stadt Rybinsk.
Die Bilder gleichen sich: Fast überall in Russland schrumpft die Bevölkerungszahl der Dörfer. Als Folge legt der Staat Schulen und Gesundheitseinrichtungen zusammen, um Kosten zu sparen. Die unabhängige Gewerkschaft der LehrerInnen Utschitel mit Sitz in Moskau hat errechnet, dass in den letzten fünfzehn Jahren 20 000 Dorfschulen geschlossen wurden. Die Behörden begründen die Schliessungen mit dem Rückgang der Anzahl SchülerInnen. Die Daten der Gewerkschaft zeigen jedoch ein anderes Bild: So gibt es in Russland 2013 über 33 000 SchülerInnen mehr als noch 2010. Die Utschitel ist gegen Schulschliessungen in den Dörfern, denn mit jeder geschlossenen Schule verliere die Gesellschaft auch einen Teil ihrer Kultur, da so nicht nur die Schulen, sondern beispielsweise auch die Bibliotheken verschwinden.
Auch die Schule in Jermakowo ist von den Schliessungen in der Region betroffen. In zwei Jahren wird eine neue Schule gebaut, die das Blockhaus ersetzen und zusätzlich 49 SchülerInnen eines Nachbardorfs aufnehmen soll. Doch trotz ihrer zunehmend schwierigen finanziellen Lage macht den LehrerInnen ihr Beruf Spass. Sie fühlen sich als ein Teil der Gemeinschaft in einem Dorf, in dem sich alle kennen. Sich etwa in Moskau eine besser bezahlte Stelle zu suchen, ist für sie keine Alternative – auch weil in Moskau die Mieten unbezahlbar seien.
Proteststimmung ist zumindest im LehrerInnenzimmer nicht zu spüren. Noch gebe es dazu keinen Grund. «Die Gehälter werden regelmässig gezahlt», sagt Schulleiter Wostrilow, «wir leben.» Bis vor etwa zehn Jahren sei das ganz anders gewesen. Da kam vom Staat überhaupt kein Geld in der Schule an. «Wir sind nicht gegen die Bildungsreform, die gerade angenommen wurde», sagt Wostrilow. «Die Ideen darin sind gut. Nur ihre Umsetzung ist schwierig», wirft eine andere Lehrerin ein. Zwar wird vor dem ausländischen Journalisten keine Kritik laut, doch es ist ersichtlich, dass es auch der Schule in Jermakowo schwerfallen wird, mit einem eigenen Budget zu haushalten, wie es das neue Bildungsgesetz vorsieht, das seit Anfang September in Kraft ist. Das Budget, das jede Schule zur Verfügung hat, ist abhängig von der Zahl ihrer SchülerInnen. Daraus müssen aber nicht nur die LehrerInnen entlöhnt werden, sondern auch etwa die Schulkrankenschwester oder der Unterhalt der Gebäude. Dafür bleibe allerdings «kaum etwas übrig», sagt Wostrilow.
Noch ist die Infrastruktur der Dorfschule Jermakowo erstaunlich gut. Die WCs befinden sich – anders als üblich – im Gebäude und nicht auf dem Hof. Es gibt eine Computerklasse und Grossbildschirme in den Räumen der Grundschulklassen. Das in den siebziger Jahren aus Holzbalken erstellte Gebäude macht einen soliden Eindruck, auch wenn es im Winter bei tiefen Aussentemperaturen in den Schulräumen sehr kalt werden kann.
Von wegen mehr Selbstständigkeit
Bereits seit längerem werden in Russland radikale Reformen im Gesundheits- und Bildungsbereich umgesetzt, die eine seit rund zwanzig Jahren bestehende Tendenz in Richtung einer Zweiklassenmedizin und Zweiklassenbildung institutionell verfestigen. Ziel dieser Reformen ist es, das noch zu Sowjetzeiten eingeführte Recht auf kostenlose Leistungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich vollständig abzuschaffen.
Die Wirtschaftselite spielt dabei mit. So hat der bekannte russische Milliardär Michail Prochorow die Interessen der UnternehmerInnen an der Bildungsreform bereits vor zwei Jahren auf den Punkt gebracht: Wenn nur zwanzig Prozent der SchülerInnen eine breite Grundausbildung bekämen, würde das reichen, sagte Prochorow, der mit einem geschätzten Vermögen von dreizehn Milliarden US-Dollar einer der reichsten Russen ist.
Der liberale Schriftsteller Dmitri Bykow kommentierte den vor zwei Jahren vorgelegten Plan des Bildungsministeriums, die Zahl der Pflichtfächer zu reduzieren, mit süffisanten Worten: «Diese Massnahmen werden umgesetzt, damit es in Russland niemals wieder eine intelligente Schicht gibt, denn von dieser kommt ja alles Übel. Nur für die Wartung der Ölpipelines und die Ja-Stimmer an der Urne brauchen wir nicht so viele kluge Menschen.» Weil damals der Plan, die Pflichtfächer zu reduzieren, in der Öffentlichkeit grosse Entrüstung auslöste und es in vielen Städten zu Protestkundgebungen kam, wurde er jedoch vom Ministerium zurückgezogen.
Die weitreichenden neuen Reformen im Bildungs- und Gesundheitswesen verstärken die Spaltung der russischen Gesellschaft in reiche Städte und arme Provinzen sowie in Unter- und Oberschicht. Die breite Masse der Bevölkerung wird zunehmend von der sozialen Versorgung abgeschnitten. Dass die Regierung jetzt die Eigenbeteiligung im Bildungs- und Gesundheitsbereich in Gesetze giesst, ist für die RussInnen allerdings nicht gänzlich neu. So wird das Recht auf kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung schon seit zwanzig Jahren ausgehöhlt, da sich der Staat in den neunziger Jahren – während der chaotischen Übergangsperiode zur Marktwirtschaft – faktisch aus beiden Bereichen zurückgezogen hatte. Lehrer und Ärztinnen erhielten damals einen Lohn von monatlich rund 120 Franken, der nicht zum Leben reichte. Als eine Folge davon bürgerte es sich ein, dass Ärztinnen nur noch gegen Schmiergeld operieren, Lehrer ihre Löhne mit Nachhilfestunden aufbessern und Schuldirektorinnen das Geld für eine Renovierung der Schulen direkt bei den Eltern einsammeln.
Die Regierung geht bei den nun initiierten Reformen schrittweise vor, um zu verhindern, dass sich doch noch spürbarer Unmut in der Bevölkerung breitmacht. Zudem berichten die staatlichen Medien – wenn überhaupt – nur am Rande über die Demonstrationen gegen die Reformen oder gar über Erfolge von Protesten, wie etwa eine erfolgreich verhinderte Schliessung eines Kinderkrankenhauses in Sankt Petersburg im letzten Januar. Stattdessen wird versucht, der Bevölkerung die Bildungsreform schmackhaft zu machen als ein Schritt hin zu mehr projektorientierten Unterrichtsformen und als eine Massnahme, um die Kinder zu mehr Selbstständigkeit zu erziehen. Die Vorgabe des neuen Bildungsgesetzes, dass nun alle Schulen mit einem eigenen Budget haushalten müssen, solle einen Anreiz dafür schaffen, dass sie mit bezahlten Förderstunden oder Sprachunterricht Geld verdienen.
Das Ziel des Staats bei all diesen Massnahmen ist es, Kosten zu sparen. So haben die Behörden bei einer Überprüfung festgestellt, dass von 502 universitären Einrichtungen 136 «nicht effektiv» arbeiteten und deshalb geschlossen oder mit anderen Universitäten zusammengelegt werden sollen. Dasselbe gilt für Polikliniken (vgl. «Warteschlange für die Warteliste» im Anschluss an diesen Text). Kein Thema ist offensichtlich, dass es bereits heute auf dem Land eine extreme Unterversorgung im Bildungs- und Gesundheitsbereich gibt. Als Mittel dagegen preist Ministerpräsident Dmitri Medwedew den Ausbau von internetgestützten Medien in Medizin und Bildung an, die ja «nichts kosten» und es zum Beispiel LandärztInnen ermöglichen sollen, mit Internet-Live-Assistenz aus Moskau zu operieren.
Sowjetische Disziplin kehrt zurück
Wsjewolod Luchowitsky ist seit 34 Jahren Lehrer und unterrichtet heute an einer Internatsschule für talentierte Kinder am Moskauer Stadtrand russische Sprache und Recht. Um sich etwas dazuzuverdienen, schreibt er nebenbei Bücher über Lehrmethodik. Vor drei Jahren gehörte der 55-Jährige zu den Mitgründern der unabhängigen Gewerkschaft Utschitel. Luchowitsky betrachtet die Entwicklungen in der russischen Bildungspolitik mit gemischten Gefühlen. So sei für LehrerInnen die Periode Ende der achtziger bis Mitte der neunziger Jahre eine «interessante Zeit» gewesen: Durch den chaotischen Systemwechsel und die schlimme Wirtschaftskrise habe der Staat kaum Mittel gehabt, nur die LehrerInnen zu kontrollieren. «Wir bekamen zwar wenig Lohn, hatten aber viele Freiheiten», sagt Luchowitsky. «Ein Lehrer konnte praktisch sein eigenes Lehrbuch entwerfen und lehren, was er wollte.» Auch konnten die Eltern plötzlich selbst bestimmen, auf welche Schule sie ihre Kinder schicken wollten. Das habe damals zu einer gesunden Konkurrenz geführt.
Dennoch sei der Lehrberuf bis Ende der neunziger Jahre wegen der schlechten Bezahlung «reine Wohltätigkeit» gewesen. Wer trotzdem dabei blieb, sah seine Tätigkeit tatsächlich als Lebensaufgabe, für die er bereit war, Opfer zu bringen. Erst Ende 1999 mit dem Machtantritt von Wladimir Putin seien die Schrauben vom Staat wieder angezogen worden. «Die alte sowjetische Disziplin kehrte schrittweise zurück», sagt Luchowitsky. «Der Staat begann, die Lehrer wieder mehr zu kontrollieren.» Immerhin seien damals auch die Löhne leicht erhöht worden.
Staatlich empfohlene Privatstunden
Dass die Schulen nun selbst für ihre Finanzen zuständig sind, hält Luchowitsky für äusserst bedenklich. Wenn das Budget von der Zahl der SchülerInnen abhänge, stehe eine Schule mit 1000 SchülerInnen ganz gut da. Wenn es jedoch nur noch 200 seien, dann könne die Schulleitung irgendwann weder den Unterhalt des Gebäudes noch die Löhne für die Bibliothekarin, den Schulpsychologen oder die Sozialarbeiterinnen bezahlen. Diese neue Regelung wird gemäss Wsjewolod Luchowitsky dazu führen, dass etwa im Zentrum von Moskau, wo viele Familien mit wenigen Kindern leben, Schulen geschlossen werden.
Das Ziel steht bereits fest. So soll es nach Plänen des Ministeriums in Moskau im Jahr 2018 statt der heute 2000 Schulen nur noch 800 Grossschulen geben. Die Zahl der LehrerInnen könne so um fünfzehn Prozent reduziert werden.
Die Bildungsreform bedeute aber nicht nur Schulzusammenlegungen, so Luchowitsky, sondern auch eine Zunahme von bezahltem Unterricht. So sei es etwa an der Mittelschule seines Sohnes gelaufen: Bereits vor zwei Jahren habe die Schulleiterin auf einer Elternversammlung erklärt, dass die Kinder in Zukunft zwei Stunden in der Woche kostenlosen Unterricht in russischer Sprache bekommen. «Dieser Unterricht vermittelt Ihrem Kind aber nicht genug Wissen, um die Abschlussprüfung zu bestehen», habe die Direktorin gesagt: «Wir empfehlen deshalb den Besuch von bezahlten Russischstunden.»
Doch nicht nur die klassischen Unterrichtsstunden sind betroffen. Die Kürzungen setzen auch an den sogenannten Spiel- und Interessensgruppen am Nachmittag an, die in der russischen Gesellschaft traditionell eine wichtige Rolle spielen, weil oft beide Eltern berufstätig sind. Bisher war die Zahl der Gruppen, die ein Kind besuchen konnte, unbegrenzt. Neuerdings sind nur noch vier Stunden pro Woche kostenlos. Jede weitere Gruppe kostet zwischen vier und fünfzehn Franken. «Diese Mehrausgaben machen sich in den Portemonnaies der meisten Moskauer schon jetzt bemerkbar», sagt Luchowitsky.
Kaum hatte die Regierung die Schulreform für gültig erklärt, nahm sie sich die nächste Gruppe vor: die in der Grundlagenforschung tätigen WissenschaftlerInnen. Gleich nach Beginn der Sommerferien im Juli wurde in der Duma, dem russischen Parlament, ein – bis zu jenem Zeitpunkt geheim gehaltener – Gesetzesvorschlag eingebracht, wonach die drei grossen russischen Wissenschaftsakademien zusammengelegt und unter die Kontrolle einer neu zu schaffenden Behörde aus FinanzexpertInnen gestellt werden sollen. Betroffen von dieser Massnahme sind die Russische Akademie der Wissenschaften sowie die Akademien für Medizin und Landwirtschaft.
Trotz der Sommerferien wurde sofort protestiert. An mehreren Kundgebungen in Moskau und anderen Städten beteiligten sich bis zu tausend WissenschaftlerInnen aus allen Fachrichtungen. Die Mehrheit der Duma-Abgeordneten liess sich davon jedoch nicht beeindrucken. Auch dieses Gesetz wurde mit einer klaren Mehrheit verabschiedet. Dafür stimmten die Abgeordneten der kremlnahen Partei Einiges Russland. Dagegen votierten die Abgeordneten der beiden linkspatriotischen Parteien KPRF und Gerechtes Russland. Der heutige Wissenschaftsetat betrage noch ein Zwanzigstel von demjenigen der neunziger Jahre, sagt der KP-Abgeordnete Oleg Smolin empört. Der Betrag, den die russische Regierung heute für den gesamten Wissenschaftsbereich ausgebe, entspreche in etwa der Summe, die allein der US-amerikanischen Universität Harvard zur Verfügung steht.
Verschachern der Grundstücke
Für Schores Alfjorow, Nobelpreisträger für Physik, KPRF-Abgeordneter und einer der bekanntesten Kritiker des neuen Gesetzes, bedeutet die Reform die Zerstörung der Akademien. Die Regierung nennt es eine weitere «Effektivierungsmassnahme». Nach Meinung vieler protestierender WissenschaftlerInnen verbirgt sich hinter der Zusammenlegung und Schliessung von Instituten aber vor allem der Versuch, die Löhne der WissenschaftlerInnen massiv zu kürzen sowie die Grundstücke der Institute etwa in der Moskauer Innenstadt teuer verkaufen zu können.
Allein die Russische Akademie der Wissenschaften hat 55 000 MitarbeiterInnen und verfügt über 500 wissenschaftliche Einrichtungen in ganz Russland. Doch die meisten ihrer WissenschaftlerInnen können schon heute kaum von ihren kargen Löhnen in Höhe von rund 600 Franken pro Monat leben. Sie müssen sich mit anderen Tätigkeiten wie Nachhilfestunden, Forschungsaufträgen aus dem Ausland oder als DozentInnen an den Universitäten etwas dazuverdienen. Diese Möglichkeiten würden durch den Stellenabbau jedoch immer mehr eingeschränkt, sagt der 34-jährige Physiker Sergej Sibirjakow, der sich an den Protesten beteiligt. Er verdient heute in Moskau rund 1200 Franken monatlich. Die geplante Zusammenlegung der Nuklearforschungsinstitute werde dann neu ein Grundgehalt von etwa 200 Franken zur Folge haben, sagt Sibirjakow.
Anderen Protestierenden wie etwa Ilja Borisow, Mitarbeiter des Instituts für Petrochemiesynthese, graut vor allem vor der neuen Finanzaufsichtsbehörde. Diese mit wissenschaftsfremden FinanzmanagerInnen besetzte Behörde soll die zusammengelegten Akademien drei Jahre lang kontrollieren. «Dann müssen die wissenschaftlichen Mitarbeiter ihre Anträge zur Laborbenutzung bei Leuten stellen, die sie nicht kennen und die nicht wissen, was wir tun», sagt Borisow. «Das heisst, wir werden drei Jahre lang nicht arbeiten können und wissen auch nicht, was danach kommt.»
Gemäss Borisow sind viele seiner KollegInnen «apathisch», denn bisher hätten die Proteste der WissenschaftlerInnen noch keine namhaften Erfolge gezeigt. Allerdings haben sie auch erst seit dem Bekanntwerden der Zusammenlegung der Akademien im Juli begonnen, sich zu organisieren. Davor hatte es praktisch keine gewerkschaftlichen oder sonstigen Aktivitäten im Wissenschaftsbereich gegeben.
Das russische Gesundheitswesen: Warteschlange für die Warteliste
Wie im Bildungsbereich will die russische Regierung auch im Gesundheitswesen durch die Zusammenlegung von Einrichtungen Kosten sparen. Zwar schafft die Regierung durchaus teure medizinische Apparaturen aus dem Ausland an. Doch gleichzeitig wird das Gesundheitsbudget reduziert und die für alle kostenlosen Grundleistungen in den Kliniken eingeschränkt.
Bis auf eine kleine Gruppe von Beschäftigten ausländischer Unternehmen und SpitzenbeamtInnen, die zu guten Konditionen privat versichert sind, ist der Grossteil der Bevölkerung bei einer staatlichen Pflichtversicherung Mitglied, die theoretisch alle Behandlungskosten übernimmt. In den Polikliniken muss man jedoch für fast jede Leistung Schmiergelder an die schlecht entlöhnten ÄrztInnen bezahlen.
In den Polikliniken ist zudem die Betreuung sehr schlecht. So muss man sich als staatlich VersicherteR für ein EKG in eine Warteschlange einreihen, nur um sich auf eine Warteliste setzen lassen zu können. Dann muss man wieder tagelang warten, bis das EKG gemacht wird – eine Tortur für kranke Menschen oder solche, die einen Beruf ausüben. Nur für ein Schmiergeld von über vierzig Franken kann man etwa die Wartezeit von drei Wochen für einen ärztlichen Termin umgehen. Deshalb warten die meisten RussInnen mit dem Arztbesuch, bis sie richtig krank sind. Die jährlichen Pflichtuntersuchungen mit Blut- und Augentest, wie sie zu Sowjetzeiten in Schulen und Betrieben vorgeschrieben waren, finden heute nur noch selten statt.
Die Leidtragenden dieser Reformen und Mittelkürzungen sind aber nicht nur die PatientInnen. Wie viel Unzufriedenheit sich beim medizinischen Personal angestaut hat, zeigte sich im April bei einem Streik von Kinderärztinnen zweier Spitäler in Ischewsk. Die Industriestadt in der Teilrepublik Udmurtien, vier Flugstunden östlich von Moskau, ist durch ihre Kalaschnikowfabrik bekannt. Auslöser der Protestaktion waren Gehaltskürzungen, Repressionen vonseiten der Spitalverwaltung und eine Überbelastung während der alljährlichen Grippewelle im Frühling.
Nicht nur hatte die Verwaltung zuvor die Zahl der Kinder, die jede Ärztin und jeder Arzt im Einzugsbereich des Spitals zu betreuen hat, um ein Drittel erhöht, sie verlängerte auch die Arbeitszeit von bisher 12 auf 14 Stunden (die gesetzliche Arbeitszeitnorm beträgt 7,8 Stunden). Zudem benutzte sie einen 2006 von Präsident Wladimir Putin eingeführten «Präsidenten-Lohnzuschlag» von monatlich 280 Franken – zusätzlich zum Grundgehalt von rund 110 Franken – als Disziplinierungsinstrument, damit sich die ÄrztInnen an die Vorschriften hielten.
Deren Wut entlud sich in einem dreiwöchigen Bummelstreik, in dem acht Ärztinnen aus zwei Spitälern strikt nach Vorschrift arbeiteten und sich für jedes Kind zwanzig Minuten statt der üblichen fünf Zeit nahmen. Organisiert wurde der Streik von der Ende 2012 gegründeten unabhängigen Gewerkschaft für medizinisches Personal Dejstwije (Aktion). Als drei der Ärztinnen auch noch einen Hungerstreik begannen, erhielten sie landesweite Medienaufmerksamkeit. Unabhängige Gewerkschaften organisierten Solidaritätskundgebungen, und auch von den Eltern erhielten die Ärztinnen Unterstützung. Als einen ersten Erfolg konnten sie eine Lohnerhöhung von fünfzehn Prozent erreichen. Da sich aber die Arbeitszeiten nicht verbessert haben, planen sie bald wieder einen «Dienst nach Vorschrift». Dank des grossen Medienechos sind sie überzeugt, dass sich am nächsten Bummelstreik mehr ÄrztInnen beteiligen werden.