76. Filmfestspiele Cannes: Hinterm Paradiesgarten der Genozid
Menschliche Monster am Filmfestival in Cannes: «The Zone of Interest» blickt auf das idyllische Anwesen des Kommandanten von Auschwitz, und ein Altmeister erzählt vom Genozid an den Native Americans.
Cannes ist eine Blase. Zwar bemüht sich das Festival stets um aktuelle Bezüge – bei der Eröffnung verlas Catherine Deneuve das Gedicht einer jungen Ukrainerin –, aber rund um den Palais des Festivals gelten in mehrfacher Hinsicht eigene Regeln. So liess der Bürgermeister politische Proteste rund um die Croisette verbannen. Und Johnny Depp, der im Eröffnungsfilm «Jeanne du Barry» Louis XV. verkörpert, nahm ein Bad in der Menge, als hätte es nie eine Amber Heard gegeben.
Von einer anderen Dimension des Verdrängens handelt auch Jonathan Glazers neuer Film «The Zone of Interest». Sie habe sich ja einen regelrechten Paradiesgarten geschaffen, sagt da die angereiste Mutter zu Hedwig (Sandra Hüller), als sie zusammen über das Anwesen streifen. Die Tochter lächelt stolz, zeigt auf den Pool und das Gewächshaus. Noch sei der Wein nicht so weit, aber bald werde er die hässliche Betonmauer da hinten verdecken. Hinter der Mauer liegt das Konzentrationslager Auschwitz.
Rauchwolken am Horizont
«The Zone of Interest» ist Glazers erster Film seit «Under the Skin» vor zehn Jahren. Dort erkannte man das Alien in Scarlett Johansson auch daran, wie ungerührt sie über ein weinendes Baby am Strand hinwegstieg. Die von Hüller gespielte Hedwig Höss nun mag mit ähnlicher Kälte den Massenmord ausblenden, der hinter ihrem Haus vollstreckt wird – aber die Ausrede, von einem anderen Stern zu sein, hat sie nicht. Im Gegenteil, sie geniesst ihr bürgerliches Glück in vollen Zügen, mit schicker Villa samt Angestellten und gelegentlichen Paketlieferungen von nebenan, darunter der eine oder andere Pelzmantel. Hüller verleiht der Figur die Grobheit einer Aufsteigerin, die eisern am Eroberten festhält; keine Rauchwolken am Horizont können sie da umstimmen.
Glazer macht es dem Publikum fast zu einfach, diese Frau abzulehnen. Das unheimlich gemütliche Leben der Familie Höss – Hedwigs Mann Rudolf war der berüchtigte Kommandant von Auschwitz – setzt er wie ein unpersönliches Überwachungsvideo in Szene. Mit kalter Präzision seziert er die These von der Alltäglichkeit des Bösen, vom Familienvater, der tagsüber den Genozid organisiert und abends seinen Kindern vorm Schlafengehen vorliest. Sind diese Menschen Monster? Kleine Irritationen verraten, dass die Beteiligten sehr wohl Bescheid wissen darüber, was fünfzig Meter weiter passiert, die herausragende Filmmusik von Mica Levi stichelt dazu verstörend. Glazers Film wurde in Cannes begeistert aufgenommen und ist einer der grossen Favoriten für die Goldene Palme.
Gute Absichten, alte Muster
Ganz anders scheint da das Porträt des Bösen, das Martin Scorsese in «Killers of the Flower Moon» zeichnet, schliesslich sind wir hier im «Wilden Westen». Um 1900 wird auf dem Gebiet der Osage-Natives Öl gefunden, was weisse Männer wie William Hale (Robert De Niro) anzieht. Dieser legt sich das Image eines Freundes der Natives zu, während er durch Einheiraten und ruchloses Morden die Rechte an den Ölquellen an sich bringt. So dirigiert er seinen Neffen Ernest (Leonardo DiCaprio) in Richtung der Osage-Erbin Mollie (überragend: Lily Gladstone) – und dieser verliebt sich dann tatsächlich in sie. Die Liebe wird ihn nicht davon abhalten, an der Ermordung von Mollies Schwestern und ihrer Mutter mitzutun, aber sie lässt ihn menschlich erscheinen, während er gleichzeitig als Monster agiert. DiCaprio spielt sich als manipulierbarer Grobian die Seele aus dem Leib.
Scorsese adaptiert das gleichnamige Sachbuch von David Grann mit dem Atem eines altmodischen Westerns. Doch trotz herausragendem Ensemble und bester Absicht gelingt es ihm nicht, die alte Voreingenommenheit des Genres zu überwinden und tatsächlich die Perspektive zu wechseln. Die Natives bleiben Nebenfiguren, während im Zentrum De Niro und DiCaprio die volle Komplexität maskuliner Rohheit aufblättern dürfen. Ihr Rassismus bleibt unterbelichtet. De Niros Figur gibt sich als bester Freund der Natives – und hält deren Aussterben doch für so unausweichlich, dass er sich beim Morden quasi von der Moderne gerechtfertigt fühlt.
Scorsese präsentierte seinen Film ausserhalb des Wettbewerbs. Eine Produktion des Streamingportals Apple TV plus in Cannes, das galt auch als Zeichen einer Entspannung im Konflikt um die Zukunft der Filmauswertung, hatte Apple doch im Vorfeld schon den Kinostart für «Killers of the Flower Moon» angekündigt. Auch in der anderen grossen Debatte, bei der Cannes immer noch hinterherhinkt, gab es Fortschritte: Sieben Regisseurinnen (bei 21 Filmen), das ist bereits neuer Rekord im Wettbewerb. Dem steht entgegen, dass mit Ken Loach, Wim Wenders, Nanni Moretti oder Aki Kaurismäki weiter die alten männlichen Cannes-Stammgäste dominieren.
Und nochmals Hüller
Dennoch: Dieses Jahr zogen tatsächlich nicht nur weibliche Namen, sondern endlich auch mehr weibliche Perspektiven ins Rennen. Etwa mit der Tunesierin Kaouther Ben Hania, die in «Les filles d’Olfa» in einer gewagten Mischung aus Dokumentation und Schauspiel den unfreiwillig verheerenden Einfluss einer Mutter auf die Lebenswege ihrer Töchter erkundete.
Die komplexeste Frauenfigur aber brachte die französische Regisseurin Justine Triet auf die Leinwand – und wieder wurde sie von Sandra Hüller gespielt. In «Anatomie d’une chute» verkörpert Hüller eine erfolgreiche Autorin, deren Mann auch schreibt – aber über der Fürsorge für den elfjährigen Sohn und angesichts von Geldproblemen hadert er mit seiner Kreativität. Als er, offenbar vom Dach gestürzt, tot vor dem Chalet der Familie liegt, wird die Frau wegen Totschlags angeklagt.
Das Gerichtsdrama, das Triet mit Geduld für lange Zeug:innenaussagen entfaltet, dreht sich dann weniger um die vermeintliche Tat als um die Beziehung mit all ihren modernen Schattenseiten. Hüller spielt diese Figur mit atemberaubendem Naturalismus: als selbstbewusste, eckige Frau, die mit den Widersprüchen einer Ehe ringt, die allen Kränkungen und Ressentiments zum Trotz funktioniert haben mag. Cannes ist Sandra Hüller im Übrigen noch etwas schuldig, seit sie 2016 für ihre Leistung in «Toni Erdmann» übergangen wurde.