Zurich Film Festival: Blut, Schweiss oder Tränen
Läuft alles gut in der Businessklasse? Das Zurich Film Festival bleibt ein unbestechlicher Spiegel seiner Stadt.
Wer sagt eigentlich, dass ein Filmfestival unbedingt eine sympathische Ausstrahlung haben müsse? Solche Festivals spiegeln immer auch ein Stück weit die Stadt, in der sie stattfinden. Die Berlinale beispielsweise leidet gerade unter akuten Geldproblemen, das kann man von Zürich nun weiss Gott nicht behaupten. Hier hat man höchstens ein Sympathieproblem. Und das Zurich Film Festival (ZFF), als unbestechlicher Spiegel seiner Stadt, bemüht sich mitunter nach Kräften, dass das auch so bleibt.
Die Rede ist nicht etwa von evangelikaler Schoggi, sondern von dem, was hier das «Davos der Filmindustrie» heisst. So zumindest bewirbt das ZFF seinen Zurich Summit im «Dolder Grand», eine «Boutique-Konferenz», die jedes Jahr während des Festivals stattfindet und einen «smarten Mix aus Wissensvermittlung und Inspiration» verspricht. Und natürlich auch «ideale Gelegenheiten zum Networking».
Wo gehts hier zur Demo?
«Welcome, folks», begrüsst ZFF-Direktor Christian Jungen am Samstagmorgen die rund hundert Gäste, die in der «Dolder-Gallery» an Fünfertischen sitzen. «Willkommen am Zurich Summit, auch bekannt als das Davos der Filmindustrie.» Darauf vereinzelte Lacher im Publikum, dann freudiger Applaus. Das Weltwirtschaftsforum des Filmgeschäfts? Wer die WOZ liest, möchte wohl in erster Linie wissen: Wo gehts hier bitte zur Smash-Wef-Demo? Spoiler: Eine solche ist rund ums ZFF nirgends zu finden.
Immerhin, das erste Panel am Summit ist mit lauter Frauen besetzt, danach sind sie durchweg in der Minderheit. Bis zum Lunch geht es um Businessstrategien zwischen Festivals, Kinoauswertung und Streaming. Sasha Bühler von Netflix Deutschland sagt: «Unsere Algorithmen sind extrem demokratisch. Entweder du klickst auf einen Film oder nicht. Und wenn du nicht klickst, verschwindet er.» Als der Moderator daraus schliesst, dass leisere Filme bei Netflix keine Chance hätten, widerspricht sie: Das stimme so auch wieder nicht, dass jeder Film knallen müsse; «My Octopus Teacher» sei schliesslich auch ein sehr stiller Film.
Ein paar weitere Take-aways vom Gipfel gefällig? Der Produzent von «Coda» sagt: «Afrika und Indien, dort liegt das Wachstum.» Der Produzent von «Dumb Money» und «Ferrari» ist gerade «pretty excited», was das Filmgeschäft angeht. Und Roeg Sutherland von der Agentur Creative Artists, die gerade für den Boutiquepreis von sieben Milliarden Dollar vom französischen Unternehmer François-Henri Pinault aufgekauft wurde? Kühn spricht er aus, was niemand im Saal anzweifeln würde: «Originality sells.»
Rosenberg statt Zauberberg
Von «Davos» wieder runter nach Zürich. Wir wechseln ins Kino, bleiben aber in der Businessklasse: Der Dokumentarfilm «The Driven Ones» beginnt auf dem Campus der Hochschule St. Gallen (HSG), also Rosenberg statt Zauberberg. Regisseur Piet Baumgartner, der dem Neumarkt-Theater zuletzt mit «EWS» den grössten Hit der vergangenen Jahre schenkte, hat fünf Absolvent:innen des Studiengangs Strategy & International Management begleitet – über sieben Jahre hinweg, also über ihren Master hinaus bis ins Berufsleben. Eine Abrechnung mit dem HSG-Spirit ist das nicht, Baumgartner lässt diese Karrieretypen und ihr Milieu für sich sprechen. Nach gut zwanzig Minuten ist auch schon Abschlussfeier, der Film verlässt das Biotop der Kaderschmiede – und verliert dadurch etwas den Fokus, der bis dahin durch das Studium gegeben war.
Trotz der einen oder anderen Sinnkrise oder Sackgasse bekommen die Figuren unterwegs kaum Raum, um ein Profil zu entwickeln. Aber vielleicht haben zwei oder drei von ihnen wirklich keins – womöglich ist das auch eine Erkenntnis über die Manager:innenklasse von morgen, aber dem Film tut das keinen Gefallen.
So ist es letztlich Feifei, deutsche Seconda chinesischer Herkunft, die zum heimlichen Zentrum von «The Driven Ones» avanciert. Das zeigt sich schon an der HSG, wo sie zwar Gelegenheit hat, Klavier zu spielen – aber Freude macht ihr das hier nicht, denn das Musikzimmer liegt im zweiten Untergeschoss. Und am Ende ist es Feifei, die so etwas wie den Anflug einer utopischen Idee in diesen Film einbringt: Eine Welt ohne McKinsey und Konsorten, wer wäre dagegen?
Bei den Wettbewerbsfilmen hat das ZFF also durchaus die passenden Filme für sich selbst im Programm. Wie etwa auch den Spielfilm «Fair Play», angekündigt als Erotikthriller im New Yorker Hedgefondsmilieu. Doch was Autorin und Regisseurin Chloe Domont hier mit dem Genre anstellt, hat wenig gemein mit der Hochglanzschmierigkeit von Filmen wie «Fatal Attraction» oder «Basic Instinct». Zwar fängt es gleich mit Sex auf der Toilette an, aber der Mann holt sich dann blutige Lippen beim Lecken. Dieser Auftakt zeigt zweierlei: erstens, dass «Fair Play» eine Netflix-Produktion ist, die uns sofort ködern muss, weil wir sonst wegklicken (siehe oben); und zweitens, dass wir hier nie wissen können, wo das noch hinführt.
In der Schwitzhütte
Die zwei auf der Toilette, das sind Luke (Alden Ehrenreich) und Emily (Phoebe Dynevor). Ihre Liebe ist gross und gegenseitig, sie muss aber heimlich bleiben, weil beide beim selben Hedgefonds arbeiten. Als Emily dort befördert und damit Lukes Chefin wird, kommt ihnen der Sexismus in die Quere, den beide auf ihre Weise verinnerlicht haben. Und auch wenn sie manchmal dramatisch übersteuert, spielt Chloe Domont diese Versuchsanordnung kühl bis zur letzten Konsequenz durch. «Fair Play» sei ein Stück weit ihre Abrechnung mit Erfahrungen, die sie in eigenen Beziehungen gemacht habe, sagte sie bei der Premiere. Ihre zentrale Frage dabei: «Wie können wir den Zusammenhang zwischen weiblicher Ermächtigung und männlicher Fragilität durchbrechen?»
Was vielleicht hilft: gemeinsam schwitzen. Nach dieser Überdosis Business war jedenfalls dringend eine rituelle Reinigung fällig. Und wann bekommt man als Mann schon Gelegenheit, in einem weiblichen Safe Space dabei zu sein? Erst recht, wenn die Frauen darin allesamt nackt sind?
Die estnische Regisseurin Anna Hints, in ihrer Heimat auch als Volksmusikerin tätig, stimmt noch vor dem Film einen Gesang mit dem Publikum an, auf Estnisch und dann auf Englisch: All unsere Scham schwitzen wir aus, all unsere Angst waschen wir im Eiswasser ab. Auch der Film beginnt dann mit Sprechgesang, wie ein Mantra: «Werde stark, werde mächtig!» Dann schlägt eine Frau ein Loch ins Eis, heizt die Rauchsauna ein – und hinein gehts in die Katharsis.
Notfalls hilft Singen
«Smoke Sauna Sisterhood» heisst dieses dokumentarische Kammerspiel. Anna Hints feiert die Rauchsauna als rituelle Stätte, wo Frauen ihre Erfahrungen teilen und wo jede Scham, die sie draussen auf ihre sozialen Rollen zurückbindet, von ihnen abfällt. In der heissen, dunklen Kammer erzählen sie von sich und hören einander zu: erste Menstruation und Coming-out, Krebsdiagnose und Abtreibung (und das Schweigen darüber). Zu Beginn machen sie sich noch lustig über Dickpics, später tut sich ein Abgrund auf. Als eine Frau sehr ausführlich von ihrer Totgeburt berichtet, liest man die schwitzenden Leiber nochmals anders: Was da rinnt, könnten auch Tränen sein.
In der Enge der Schwitzhütte passen die Körper nie ganz ins Bild. Und von den 25 Frauen, die im Film vorkommen, wollten viele nicht, dass sie mit ihrem Gesicht zu sehen sind. Auch deshalb ist oft nicht auszumachen, wer von den Frauen gerade erzählt. Aber es ist auch gar nicht wichtig, das Gesicht zur jeweiligen Geschichte zu kennen. «Smoke Sauna Sisterhood» fügt sich so zu einem intimen Panorama, das eben nicht in partikulare Identitäten zerfällt, sondern alle verbindet: zu einem Gemeinschaftskörper weiblicher Erfahrung. Und wenn Schwitzen nicht mehr reicht, um die Angst loszuwerden, hilft vielleicht: Singen.
«Fair Play» läuft ab 13. Oktober 2023 bei Netflix. «The Driven Ones» startet am 2. November 2023 im Kino, «Smoke Sauna Sisterhood» am 11. Januar 2023.