Film und Klimakatastrophe: «Das Kino ist Archiv einer verschwindenden Welt»

Nr. 41 –

Die US-Medientheoretikerin Jennifer Fay, die derzeit eine Programmreihe im Zürcher Kino Xenix mitkuratiert, erläutert im Gespräch, warum sie Katastrophenfilme ärgern ­– und was sich von alten Sowjetregisseuren lernen lässt.

WOZ: Frau Fay, kennen Sie auch diesen unangenehmen Gedanken, dass es angesichts der Klimakatastrophe sinnvollere Beschäftigungen gäbe als Filme?

Jennifer Fay: Sie meinen, wieso man über das Kino nachdenken soll, wenn die Abwendung der Katastrophe unser aller Einsatz braucht? Weil der Film ein sehr philosophisches Medium sein kann. Was mich manchmal verzweifeln lässt, ist, dass die Krise kaum sichtbar ist. Es stellt sich die dringende Frage, wie man diese so interessant darstellen kann, dass sie sich nicht mehr verdrängen lässt. Da können Filme helfen. Zudem handelt es sich beim Kino um ein unbewusstes Archiv einer Welt, die im Begriff ist, zu verschwinden. Wie kaum ein anderes Medium kann es ein Bewusstsein für dieses Verschwinden schaffen.

Bei der Klimakrise handelt es sich also auch um ein Erkenntnisproblem?

Ich und viele andere sind mit den Normen der sogenannten «Grossen Beschleunigung» aufgewachsen, also jener Periode seit dem Zweiten Weltkrieg, in der sowohl der Lebensstandard als auch dessen Energieverbrauch exponentiell angestiegen sind. Diese Normen verkörpern für uns, wenn man sie nicht hinterfragt, Ideen von «Fortschritt» oder gar der «Natur». Mir wurde beispielsweise erst spät bewusst, dass Bilder von Maisfeldern in Iowa nicht die «Natur» zeigen, sondern eine Kulturkatastrophe.

Wie kommt da das Kino ins Spiel?

Das Kino ist an diesen Sichtweisen mitschuldig, aber es kann auch zu einer Neuorientierung beitragen. Es kann uns dabei helfen, eine globale Krise zu verstehen, die in ihren zeitlichen und räumlichen Dimensionen ansonsten unvorstellbar ist. Es kann diese Dimensionen für uns greifbar machen oder uns Hinweise auf die Welt geben, die sich im erst kaum beachteten, dann aber plötzlich relevanten Bildhintergrund abspielt. Wenn wir in Filmen darauf achten, was im Hintergrund passiert, welche Objekte da etwa zufällig auftreten, sehen wir sie neu. Viele Kunstwerke – Gemälde wie etwa jene von William Turner, die eine Welt voller Smog zeigen, aber auch Romane und Filme – erfahren im Zusammenhang mit einer neuen Art von Katastrophe auch eine neue Resonanz.

Filmtheorie aus Nashville

«Ich liebe es, mich in diesen Dingen zu verlieren ­– ich bin total glücklich», meint Jennifer Fay auf unsere Entschuldigung, weil das Interview etwas länger gedauert hat als angekündigt. Sie ist Professorin für Film- und Medienstudien an der Vanderbilt University in Nashville, Tennessee. 2018 publizierte sie «Inhospitable World: Cinema in the Time of the Anthropocene». Zusammen mit Marius Kuhn vom Zürcher Kino Xenix kuratierte sie die Reihe «Wir leben im Anthropozän», die dort noch bis am 1. November läuft. Am Freitag, 13. Oktober, um 20 Uhr führt sie dort in die Vorführung von «Steamboat Bill, Jr.» ein.

 

Portraitfoto von Jennifer Fay
Jennifer Fay

Dann begrüssen Sie Klimaapokalypsen aus Hollywood, die diese Katastrophe vom Hintergrund ins Zentrum rücken?

Nein, ich ärgere mich über Katastrophenfilme, die uns hoffen lassen, dass alles beim Gleichen bleibt – statt uns zu zeigen, dass nicht der Sturm, der gerade über die Stadt fegt, die Katastrophe ist, sondern die Stadt selbst. Solche Filme banalisieren die Klimakatastrophe, indem sie sie bloss dazu verwenden, die Handlung voranzutreiben. Die alten Erzählmuster überdauern dabei buchstäblich das Ende der Welt. Und es gibt immer eine Lösung. In «2012» von Roland Emmerich kann sich der überlebende Rest der Menschheit auf Archen retten. Am Ende stellt man erleichtert fest, dass ein Teil Afrikas über Wasser geblieben ist, und macht sich auf, den Kontinent wieder neu zu kolonisieren. Sehr inspirierend! Der Kulturtheoretiker Frederic Jameson spricht in Bezug auf Science-Fiction-Filme auch von einer «Nostalgie für die Gegenwart», die in vielen dieser Filme herrscht. Dabei ist doch gerade diese Gegenwart das Hauptproblem.

Es müssten also eigentlich Alternativen zur Gegenwart gezeigt werden?

Der indische Historiker Dipesh Chakrabarty hat überzeugend dargelegt, dass in der menschlichen Geschichte nichts unvermeidlich ist. Es gibt keinen Grund, warum die Dinge so verliefen, wie sie es taten, und nicht anders. Nichts daran, wie sich etwa die kapitalistische Konsumkultur entwickelt hat, war unausweichlich. Das Kino ist wie das Anthropozän ein Produkt der industriellen Revolution. Und es hat alles aufgezeichnet und archiviert: welche Lebensweisen und welche Arten von Modernität die Erfindung der Dampfmaschine und dann die Nutzung von fossilen Brennstoffen ermöglicht haben. Gleichzeitig ist das Kino ein Teil dieser Moderne. Es hat die Leute in die Stadt gelockt und die industrielle, kapitalistische und kommerzielle Kultur verbreitet.

Welche Rolle spielen Filmgenres? Im von Ihnen mitgestalteten Programm kann man nebst Science-Fiction- und Dokumentarfilmen etwa auch einen Film von Buster Keaton sehen.

Schauen Sie sich die Sturmszene in «Steamboat Bill, Jr.» einmal an: Die ist absolut unheimlich! Die mulmigen Gefühle, die man dabei verspürt, dürften sogar stärker und produktiver sein als beispielsweise bei einem Horror- oder Katastrophenfilm, wo man von Anfang an weiss, dass Unheil droht. Bei Keaton aber, der alle Stunts selber ausführte und sich dabei viele Knochen brach, bekommen wir tatsächlich ein Gefühl für die Zerbrechlichkeit des Körpers – selbst wenn es sich «nur» um eine Komödie handelt. Ein anderes, vielleicht unerwartet philosophisches Genre ist der Film noir. In diesem wird die Idee vom «guten Leben» als ein «grausamer Optimismus» im Sinne der Kulturtheoretikerin Lauren Berlant entlarvt: dass gerade dasjenige, das wir begehren, etwa im Konsum, uns die Zukunft verbaut. Und was tut der Film noir am Ende denn anderes, als einer weissen, männlichen Kultur das Sterben beizubringen? Für das Anthropozän sicherlich eine sinnvolle Lektion.

Wenn man an den Hype um «Oppenheimer» und «Barbie» denkt: Erzählt «Barbie» nicht sogar von einer noch grösseren Katastrophe, der Verseuchung der Welt mit Plastik?

Beide Filme sind interessant im Hinblick darauf, was von der Menschheit zurückbleiben wird – ihr Erbe sozusagen. Das ist auch etwas, das wir mit unserem Programm vermitteln möchten: dass die «Archive» des Anthropozäns das genaue Gegenteil dessen sein werden, was wir als sinnvolles Archiv bezeichnen würden. Von der «Bedeutung» der menschlichen Zivilisation wird einmal ihr Abfall zeugen, der auf grossen Müllhalden die Zeiten überdauert. Auch das Kino wird irgendwann bloss noch Kunststoffmüll sein. Ich liebe jene Szene in der ersten Hälfte von «Wall-E», in der der kleine Roboter, der die entvölkerte Erde aufräumt, eine kleine Schachtel mit einem Diamantring darin findet. Beides inspiziert, entscheidet er sich, den Ring fortzuwerfen und die lustige bewegliche Schachtel zu behalten. Das ist das Archiv des Anthropozäns.

Nach einem berühmten Zitat von Frederic Jameson ist es einfacher, sich das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorzustellen. Ist das nicht auch ein Scheitern des Kinos? Wo sind die Bilder, die uns dabei helfen, eine Alternative zu entwerfen?

Es gibt diese schreckliche konterrevolutionäre Idee namens «Nachhaltigkeit», die uns weismachen will, dass mit ein paar kleinen Anpassungen alles so weitergehen kann wie bisher und dass es keine einschneidenden Änderungen im System braucht. Der nordmazedonische Dokumentarfilm «Honeyland» über eine Wildimkerin, den wir auch im Programm zeigen, geht in eine andere Richtung: Er zeigt ein Leben, das auch in Abwesenheit des Kapitalismus ein gutes, nachhaltiges Leben ist. Das war uns wichtig: nicht nur den Klimawandel mit seinen Stürmen zu zeigen, sondern auch, was es heissen würde, nur das zu nehmen, was man braucht, und ein Leben zu führen, das gut genug ist.

Und in der Fiktion?

Ich finde Slavoj Žižeks Gedanken zum sowjetischen Kino spannend. Natürlich sind diese Filme oft schlicht verlogene Staatspropaganda, aber auf der anderen Seite kann man hier tatsächlich die Möglichkeit eines besseren Lebens erahnen. Eine kommunistische Utopie als Alternative zum Kapitalismus. Dafür dürfen wir Filme wie «Die Mutter» oder «Das Ende von Sankt Petersburg» von Wsewolod Pudowkin nicht nur als böse Kulturobjekte autoritärer Regimes betrachten, wir müssen sie aus ihrem Kontext lösen. Das ist ja im Hollywoodkino auch nicht anders, wo jeder Western auch eine Rechtfertigung für den Genozid an der indigenen Bevölkerung ist. Natürlich ging es auch im Kommunismus um eine Wirtschaft, die die Umwelt ausbeutete. Und doch können wir in diesen Filmen ein anderes Verhältnis zu Produktion und Konsum erkennen. Und einen Blick auf eine Natur, die mehr ist als blosser Rohstofflieferant.