Anna Politkowskaja: Weil sie es nicht mehr schreiben kann

Nr. 43 –

Vera Politkowskaja hat ein Buch über ihre Mutter, die bekannte russische Journalistin, verfasst. Über die Biografie hinaus will sie deren furchtloses und scharfsinniges Werk auch in die Gegenwart fortschreiben.

Man kann sich vorstellen, wie Anna Politkowskaja damals am Computer vor ihrer Tastatur sass, physisch anwesend, aber gedanklich voll in ihren Texten versunken. Sie sprach immer von Notizen, die sie mache, erinnert sich ihre Tochter Vera – nicht von Nachrichten, Artikeln, Berichten, sondern Notizen. Es waren vor allem die Notizen aus dem Zweiten Tschetschenienkrieg (ab 1999), die die russische Journalistin berühmt machten.

Politkowskaja berichtete darin von Kriegsverbrechen, von Folter und Morden durch das russische Militär und durch die paramilitärischen tschetschenischen Verbündeten. Ihre Recherchen, die meist im Oppositionsmedium «Nowaja Gaseta» erschienen, waren erhellend, mutig, ja heldinnenhaft. Anna Politkowskaja bezahlte mit dem Tod dafür: Am 7. Oktober 2006, am Geburtstag Wladimir Putins, wurde sie in Moskau ermordet.

Wie sehr der Fall Politkowskaja für das System Putin und auch für das heutige Russland steht, kann man in dem nun auf Deutsch erschienenen Buch ihrer Tochter Vera Politkowskaja, «Meine Mutter hätte es Krieg genannt», nachlesen, das sie zusammen mit der Journalistin Sara Giudice verfasst hat. Vera Politkowskaja zeichnet darin nicht nur die Biografie ihrer Mutter nach, sie beschäftigt sich auch mit ihrer eigenen Rolle in der Diktatur in Zeiten des russischen Angriffskriegs. «In meinem Land ist die Freiheit ein Luxus, den sich nur wenige leisten können», schreibt sie. Wenn man gegen den Krieg protestiere, riskiere man hohe Haftstrafen, wenn nicht gar sein Leben.

35 tote Journalist:innen

Vera Politkowskaja ist selber Mutter einer Tochter im Teenageralter – zu Beginn des Krieges gegen die Ukraine hadert sie auch aus persönlichem Verantwortungsgefühl damit, sich den Protesten anzuschliessen: «Ich finde, ich habe als Mutter nicht das Recht, meiner Tochter das Leben schwer zu machen. Sie ist noch zu jung, um ohne mich auszukommen», schreibt sie in diesem durchgängig sehr ehrlichen und persönlichen Buch.

Anna Politkowskaja war eine von vielen – einerseits. Denn Oppositionelle und Journalist:innen werden seit Putins Amtsantritt reihenweise vom Regime mundtot gemacht, verfolgt und ermordet. Reporter ohne Grenzen zählt seit dem Jahr 2000 insgesamt 35 getötete Journalist:innen in Russland. Andererseits ist Politkowskaja die Symbolfigur der russischen Opposition schlechthin – denn sie hat als Erste das nicht selten bestialische Vorgehen der Armee in Tschetschenien beleuchtet und scharfsinnig die innenpolitischen Entwicklungen in Russland verfolgt. Was sie in ihren Texten beschrieben hat, weist direkt in die Gegenwart, in die Welt seit dem 24. Februar 2022.

Die Tochter beschäftigt sich entsprechend viel mit dem kriegerischen Heute, ihr Buch ist mehr als eine Biografie ihrer Mutter, es handelt auch vom eigenen Ringen mit ihrem Heimatland. Vera Politkowskaja hat Russland im April 2022 mit ihrer Tochter verlassen und lebt inzwischen an einem geheimen Ort im europäischen Exil. Auch deshalb schreibt sie nun wohl so offen über den Krieg.

Sie macht keinen Hehl daraus, dass sie den Krieg für durch und durch verbrecherisch hält – und begründet dies anhand des russischen Gesetzes: «Artikel 353 des Strafgesetzbuchs der Russischen Föderation besagt, dass wer einen Angriffskrieg plant, vorbereitet oder auslöst, mit Freiheitsentzug von sieben bis fünfzehn Jahren (Absatz 1) bestraft wird, wer einen Angriffskrieg führt, mit einer Haftstrafe zwischen zehn und zwanzig Jahren (Absatz 2).» Auch daran, dass Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine den Tatbestand des Genozids (nach Uno-Völkermordkonvention) erfüllt, lässt sie keinen Zweifel.

«Wir machen nicht dicht»

Man hat zuweilen den Eindruck, Vera Politkowskaja halte all das stellvertretend für ihre Mutter fest, die diese Worte nicht mehr schreiben kann: «Sie nahm kein Blatt vor den Mund, wenn sie von dem berichtete, was sie sah, und oberste Priorität hatten für sie Unrecht, Barbarei, das Zeugnis des Grauens. Dies war ihre Form von Journalismus. Die Fakten berichten, schreiben, ohne auf Machthierarchien Rücksicht zu nehmen.»

Nur ein Satz über ihre Mutter klingt anmassend: «Ihre Art, Journalismus zu betreiben, ist mit ihr gestorben», heisst es an einer Stelle. Das wird jenen mutigen Journalist:innen nicht gerecht, die heute den Angriffskrieg beim Namen nennen – oder auch jenen, die im Gefängnis sitzen oder schon tot sind. Auch die «Nowaja Gaseta», die ihre Artikel veröffentlichte, hat schliesslich lange durchgehalten (innerhalb Russlands bis 2022) und ist erst dann ins Exil gegangen, als das Produzieren und Publizieren der Zeitung von den Zensurbehörden unmöglich gemacht wurde. Schon nach Anna Politkowskajas Tod wollte Chefredaktor Dmitri Muratow die Redaktion schliessen, um seine Leute «aus der Schusslinie» zu nehmen, so schildert es Vera Politkowskaja. Doch die Redaktor:innen hätten sich ihm widersetzt. «Wir machen nicht dicht, wir machen weiter», hätten sie gesagt. Heute, siebzehn Jahre nach Anna Politkowskajas Tod, braucht es solche mutigen russischen Stimmen mehr als je zuvor.

Vera Politkowskaja, Sara Giudice: «Meine Mutter hätte es Krieg genannt». Aus dem Italienischen von Christian Försch und Amelie Thoma. Tropen Verlag. Stuttgart 2023. 192 Seiten. 34 Franken.