«Die Farbe des Krieges»: Boris Jelzin schläft friedlich

Nr. 21 –

Der russische Autor Arkadi Babtschenko hat seine Erfahrungen als Soldat im Tschetschenienkrieg in einem Roman verarbeitet. In einem Gespräch am Rand der Basler Buchmesse vermittelt er eine Ahnung von der humanen Katastrophe.

Es war lange Zeit nicht klar, ob Arkadi Babtschenko zur BuchBasel kommen würde. Der russische Autor und Journalist plant nicht lange im voraus. Arkadi Babtschenko ist dreissig Jahre alt. Ein hochgewachsener, hagerer Mann mit fein geschnittenen Gesichtszügen und traurigen Augen. Er bewegt sich behutsam und ein bisschen zögerlich, als wisse er nicht so recht, wohin mit sich; er ist freundlich und sehr um Höflichkeit bemüht. Dieser junge Mann mit dem sanften Händedruck, der auftritt wie einer, der sein Leben lang nichts anderes gemacht hat, als Gedichte zu schreiben, war Soldat im Tschetschenienkrieg. Seine Erinnerungen hat er in einem Buch verarbeitet. Die deutsche Übersetzung, «Die Farbe des Krieges», ist Anfang des Jahres bei Rowohlt erschienen.

«Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Das ist sehr wichtig für mich.» Mit den wenigen Sätzen Englisch, die er spricht, begrüsst Babtschenko die anfangs noch wenigen ZuhörerInnen, die zu seiner Lesung gefunden haben, der ersten an diesem Buchmessesonntag. Das Schreiben seines Kriegszyklus, der von KritikerInnen mit Werken von Erich Maria Remarque und Ernest Hemingway verglichen und mit einem russischen Preis für NachwuchsliteratInnen ausgezeichnet wurde, sei eine Art «Therapie» für ihn gewesen, erklärt er in seiner Muttersprache. Jede Lesung und jedes Gespräch gehörten dazu.

Russische Propagandamaschine

Mit achtzehn Jahren in den Militärdienst eingezogen, wurde Babtschenko 1996 in die Kaukasusrepublik Tschetschenien versetzt, die nach dem Zerfall der Sowjetunion um ihre Unabhängigkeit kämpfte. Ab 1994 herrschte dort Krieg. «Eine riesige Propagandamaschinerie vertuscht, dass der russische Staat seine Fürsorgepflichten nicht erfüllt, und hält das Schwarz-Weiss-Denken der Menschen aufrecht», erklärt Babtschenko später, als wir uns vor ein Café auf dem Messeplatz setzen. Tagtäglich werde der russischen Bevölkerung eingeimpft, TschetschenInnen seien keine Menschen, sondern «Muselmanen, die das Blut eurer christlichen Männer trinken».

Terrorakte tschetschenischer Extremisten, wie die Geiselnahme von Beslan 2004, trügen dazu bei, diese Meinung zu festigen. Er selbst habe anfangs keinen Hass fühlen können, als er in den Kaukasus gekommen sei. «Wie denn auch? Ich wusste damals gar nichts über Tschetschenien. Man hätte mir auch sagen können, man schicke mich in die Schweiz, das hätte für mich keinen Unterschied gemacht.» Als «Jüngchen», die kaum wussten, wie man eine Waffe hält, habe man sie in Panzerwagen gesetzt und in den Kaukasus transportiert. «Dort sagte man uns: Die Tschetschenen sind Ziegenböcke, bringt sie alle um!» Erst später, als sein Freund Igor getötet wurde, habe er das Hassen gelernt.

«Heute sehe ich es so, dass beide Völker von ihren Regierungen betrogen wurden - die Tschetschenen damals von Dschochar Dudajew, wir Russen von Boris Jelzin.» Nur wenn er an jene denke, die ihn in den Krieg schickten, dann fühle er «einen reinen, intensiven, ganz schrecklichen Hass», sagt der Mann, der gerade einem rücklings auf unserem Tisch gelandeten Käfer auf die Beine geholfen hat. «Der Tod von Boris Jelzin vor wenigen Wochen war für mich eine persönliche Tragödie. Dieser Mann, der dafür gesorgt hat, dass Hunderttausende im ersten Tschetschenienkrieg gestorben sind, hatte die Gnade, in seinem Bett einschlafen zu dürfen.» Und Präsident Wladimir Putin werde es wohl einmal ähnlich gehen.

Babtschenko zeichnet ein düsteres Bild von seinem Russland, das er trotz allem, was er erlebt hat und täglich erlebt, nicht verlassen möchte. «Seit dem Zerfall der Sowjetunion wird Russland von Menschen regiert, die es nicht als ihr Land betrachten. Sie sehen in Russland einen grossen Vorspeisenteller, von dem sie sich nach Herzenslust bedienen können. Innerhalb weniger Jahre haben sie es geschafft, diesen Teller komplett zu leeren. Viele Leute, die mitverantwortlich für die Verhältnisse in Russland sind, leben selbst im Ausland. Ihr Geld liegt auf Schweizer Bankkonten, ihre Häuser stehen an der Riviera, sie haben jegliches Verhältnis zu Russland verloren.»

Die Herrschaft der Grossväter

In seinem Buch, das er nicht autobiografisch, sondern wahrheitsgetreu nennt, schildert Babtschenko bis ins grausamste Detail, was Menschen einander anzutun in der Lage sind. Und doch sind es nicht die furchtbaren Rachespiele zweier aufeinander gehetzter Völker, die den Schrecken der «Farbe des Krieges» ausmachen. Es sind die menschenverachtenden Strukturen innerhalb der russischen Armee. Da zwingen mit Drogen und Alkohol zugedröhnte Soldaten ihre Rekruten zu Waffenverkäufen an den Feind, um den Urlaub der Älteren zu finanzieren. In den Nächten werden die «Glattärsche, Dachse, Frischlinge» blau und blutig geschlagen, getreten und geschnitten, um am nächsten Morgen dafür zu büssen, dass die Wunden der vergangenen Nacht noch nicht verheilt sind.

Die «Djedowtschina», die «Herrschaft der Grossväter», wie die Russen diese in der Armee längst zum Alltag gewordenen Schikanierungen und Misshandlungen junger Soldaten durch Dienstältere nennen, sind nicht erst durch den 19-jährigen Andrej Sytschow bekannt geworden, dem Anfang 2006 nach Misshandlungen durch Vorgesetzte beide Beine, die Genitalien und ein Finger amputiert werden mussten. 6700 Rekruten seien im vergangenen Jahr im Militärdienst von Vorgesetzten oder Dienstälteren misshandelt worden, 33 von ihnen an den Folgen gestorben, teilte die Generalstaatsanwaltschaft im April trocken mit. Die Organisation der Soldatenmütter Russlands geht von weit höheren Zahlen aus. Hunderte junger Rekruten nehmen sich jährlich selbst das Leben, weil sie die Quälereien nicht länger ertragen können.

«Was sich ‹russische Armee› nennt, ist keine Armee, sondern Sklaverei», sagt Babtschenko. Doch in Russland interessiere sich niemand für diese Zustände. «Wer es sich leisten kann, kauft seine Söhne frei. Und viele von denen, die aus der Armee oder dem Krieg zurückkommen, sprechen nicht über ihre Erlebnisse.» Erhalten die Veteranen psychologische Hilfe? Der Autor winkt müde ab.

Das Leben danach

Arkadi Babtschenko hatte Glück, Tschetschenien und die russische Armee entliessen ihn körperlich nahezu unversehrt. Zurück in Moskau, begann er, Jura zu studieren, doch der Krieg wollte ihn nicht verlassen. Er konnte sich nicht in diesem vermeintlichen Frieden einnisten, während in Tschetschenien tagtäglich Menschen starben. Der Krieg war für ihn zur Droge geworden, er brauchte seine zerstörerische Kraft, um weiterleben zu können. Und so meldete er sich freiwillig für fünf Monate als Söldner, als Wladimir Putin - damals noch Ministerpräsident - im Oktober 1999 in den zweiten Tschetschenienkrieg zog.

Der Nahkampf sei ihm erspart geblieben, ob er aus der Ferne Menschen getötet habe, wisse er nicht, sagte Babtschenko einmal in einem Interview. «Es hat drei Jahre gedauert, bis ich nach dem Krieg wieder richtig schlafen konnte», erklärt er nun auf dem Basler Messeplatz. «Hätte ich nicht angefangen, zu schreiben, wäre ich heute Alkoholiker oder sässe für irgendeine Straftat im Gefängnis. Er hat den anderen Weg gewählt. Anstatt zuzulassen, dass der Krieg ihn heimlich von innen zerfrisst, stellt er sich ihm Tag für Tag. Als «Kriegsreporter» schreibt er für die «Nowaja Gaseta», eine der letzten unabhängigen Zeitungen Russlands, für die auch die regimekritische Journalistin Anna Politkowskaja schrieb, bis sie im Oktober 2006 ermordet wurde. Zudem gibt er eine Internetzeitschrift mit Texten von Kriegsveteranen heraus.

Der junge Journalist zeigt sich desillusioniert, was die kritische Berichterstattung in Russland angeht: «Die ‹Nowaja Gaseta› zum Beispiel hat eine Auflage von 70 000 Exemplaren, bei einer Bevölkerung von fast 150 Millionen - das braucht man nicht weiter zu kommentieren.» Dennoch mussten seit dem Zerfall der Sowjetunion über 200 JournalistInnen sterben. Allein drei Redaktoren der «Nowaja Gaseta» wurden in den vergangenen fünf Jahren in Putins Russland umgebracht. Macht ihm das keine Angst? «Das Gefühl der Angst habe ich im Krieg verloren.»

Dafür, dass er für sein Land in den Bruderkrieg zog, darf Babtschenko heute kostenfrei öffentliche Verkehrsmittel benutzen und erhält zwanzig US-Dollar Pension im Monat. «Aber das ist für mich in Ordnung. Ich bin gesund, habe zwei Arme und zwei Beine und kann arbeiten.» Seine Arbeit und die Familie - seine Frau, die kleine Tochter und zwei adoptierte Mädchen aus dem Waisenhaus - halten ihn am Leben. «Ich habe mir meine Welt so aufgebaut, dass es etwas gibt, wofür ich jeden Morgen aufstehe und lebe. Ich glaube, ich kann heute sogar sagen, dass ich glücklich bin», sagt der Mann mit den traurigen Augen.

«100 000 Tote sind ein hoher Preis für mein Glück, aber für mich persönlich tut mir nichts von dem, was ich erlebt habe, leid. Wenn ich nicht in diesen Krieg gezogen wäre, wäre ich heute ein anderer Mensch. Der Krieg hat mich gelehrt zu denken; ich fühle mich vollwertig. Ich kann denken, und ich denke - und stehe nicht als satte Kuh im Stall.»

Arkadi Babtschenko: Die Farbe des Krieges. Rowohlt Verlag. Berlin 2007. 256 Seiten. Fr. 31.70