Literatur: Mit Alex durch die Gegend driften

Nr. 43 –

Ihr Stil kann süchtig machen: Zurückhaltend und kühl erzählt Emma Cline in ihrem Roman «Die Einladung» von ambivalenten Beziehungen zwischen oben und unten.

Portraitfoto von Emma Cline
Seit «The Girls» (2016) gefeierter Shootingstar: Autorin Emma Cline. Foto: DeVincentis

Das Wasser ist ihr Element. Nicht nur weil Alex eine gute Schwimmerin ist, sondern auch, «weil sie dort genau wie alle anderen war. Nichts Ungewöhnliches an einer jungen Frau, die allein im Meer schwamm. Unmöglich zu sagen, ob sie hierhergehörte oder nicht.» Die Meer- und Poollandschaft auf Long Island, wo das gehobene New Yorker Publikum seine Ferien in prächtigen Häusern und am Strand verbringt, ist auch in anderer Hinsicht überlebenswichtig für die junge Frau, die dort nicht nur schwimmt, sondern auch untertaucht.

Gerade «sang- und klanglos zweiundzwanzig geworden» und tablettenabhängig, ist ihre Situation in New York immer prekärer geworden: Ihre Stammkunden, von denen sie sich aushalten lässt, melden sich nicht mehr, und sie wird verfolgt von einem mysteriösen Dom, dem sie reichlich Geld schuldet. Ausserdem haben ihre Mitbewohnerinnen sie gerade aus dem gemeinsamen Domizil geworfen, weil sie keine Miete abgedrückt hat. So kommt ihr die Einladung von Simon, Mittfünfziger und Kunstsammler, den sie zufällig in einer Bar kennengelernt hat, wie gerufen. Sie kann sich in seinem Sommerhaus vorerst «verschwinden lassen».

Kein Identifikationsangebot

«Die Einladung» lautet der deutsche Titel des neuen Romans von Emma Cline, gefeierter Shootingstar und seit «The Girls» (2016) auch im deutschsprachigen Raum bekannt, ja gar gehypt. In «The Girls» erzählte sie von einer jungen Frau, die in den Manson-Clan gerät, eine in den späten Sechzigern in den USA berüchtigte Sekte (siehe WOZ Nr. 32/16). Mit dem Erzählband «Daddy» lotete die 1989 geborene Autorin vor zwei Jahren die Beschädigungen von Männern aus, deren Leben auf die eine oder andere Art aus den Fugen geraten ist und die – meist erfolglos – versuchen, es wieder in den Griff zu bekommen. Auch in diesen Erzählungen herrscht der zurückhaltend-kühle, manchmal melancholische Ton vor, der für Cline typisch ist.

Auch mit ihrer Protagonistin Alex macht Cline kein Identifikationsangebot. Denn man möchte diese berechnende Frau, von deren Vergangenheit man fast nichts erfährt – was wenig Mitgefühl evoziert –, gelegentlich einfach mal schütteln. Dass sie den egozentrischen Simon, auch nicht gerade ein Wunschkandidat besorgter Schwiegermütter, ausnutzt, mag hingehen. Es ist ein geläufiger Dienstleistungsdeal: Sex, der Einfühlung vorgibt, gegen das kleine Luxusleben am Strand, inklusive Bedienung durch unsichtbar waltende Hausgeister – zu denen Alex letztlich auch gehört.

Auf einer auswärtigen Party entgleist dieses Arrangement, Simon wirft Alex kommentarlos aus dem Haus. Und dann kommt etwas, das zwar unbedingt nötig ist, um die Geschichte voranzutreiben, aber nach allem, was man zuvor gelesen hat, nicht recht stimmig wirkt: Alex bildet sich ein, dass sich Simon wünscht, sie würde auf seiner Gartenparty auftauchen, die in einer Woche stattfinden soll. Eine solche Verblendung von einer, die scheinbar «immer gut darin gewesen ist, die Dinge klar einzuschätzen»? Und die sich in der Folge energisch und ohne Rücksicht auf Verluste durchschlägt? Das verwundert bei einer ansonsten psychologisch so versierten Autorin.

Gleichwohl konzentriert sich die Erzählung auf diese Woche, in der Alex durch die Gegend driftet und sich ausmalt, wie Simon sie wieder in seine Arme schliessen wird. Und das ist nun wirklich gut erzählt. Bei einigen wohlstandsverwahrlosten Kids ergattert sie einen Schlafplatz, wohnt deren Drogeneskapaden bei, trickst eine Nanny aus, zerstört nebenbei ein wertvolles Gemälde, hinterlässt eine Spur der Verwüstung. Wo es sich ergibt, klaut sie ohne Reue.

In der Begegnung mit dem siebzehnjährigen Jack, dem schlecht erzogenen, labilen Sohn eines Filmproduzenten, der glaubt, sie zu lieben, scheint auf, was die Abkömmlinge der Upperclass und junge Frauen wie Alex, die weder ihren eigenen Gefühlen noch denen der anderen traut, trennt: «Jack hätte es leichter, wenn er nicht so viel erwarten würde, wenn er begreifen würde, dass diese Worte nur auf Bedeutung hinwiesen, nicht die Bedeutung selbst waren.» Mit ihm eskaliert schliesslich die Situation.

Durch die neoliberale Schule

Ausser Alex und am Rande Jack gewinnt keine Figur an Tiefe, man streift sie ebenso flüchtig, wie Alex deren Leben streift. Sie steht immer ein bisschen neben sich, immer auf Beobachtungsposten. Damit erinnert sie an die jungen Girls der Literatur der Neuen Sachlichkeit in den 1930ern, an die «kunstseidenen Mädchen», nur dass Alex inzwischen durch eine neoliberale Schule gegangen ist, die sie für sich zu nutzen versucht: «Der Wert basierte auf einem Netzwerk von Faktoren, die ständig im Fluss waren. […] Dieses Spiel, andere Leute vom Wert der Dinge zu überzeugen – in der Hinsicht waren sie und Simon gar nicht so verschieden.»

Auch wenn man diese Figuren irgendwann vielleicht satthaben sollte, liegt der Sog von Clines Büchern in ihrer kühlen und flüchtigen Art, wie sie mit wenigen Strichen die ambivalenten Beziehungen zwischen oben und unten einfängt. Und in einem Stil, der durchaus süchtig machen kann.

Buchcover von «Die Einladung»
Emma Cline: «Die Einladung». Roman. Aus dem Englischen von Monika Baark. Hanser Verlag. München 2023. 320 Seiten. 37 Franken.