Christine Rinderknecht: Unterkühlter Familienkosmos

Nr. 44 –

Leichtfüssig und lakonisch erzählt die Zürcher Autorin aus dem Familienleben der schönen Lilli.

Wenn eine Tote ihrer eigenen Beerdigung beiwohnt, könnte das leicht ins Groteske kippen. Nicht so im neuen Roman von Christine Rinderknecht. Ganz beiläufig tritt nach wenigen Seiten die Hauptfigur Lilli auf, die eben zu Grabe getragen worden ist. Es ist ein kalter Tag im März, es schneit, doch Lilli fühlt sich beschwingt wie schon lange nicht mehr. «Lilli wartet, bis die Leute sich vom Grab entfernen und ebenfalls in der Kirche verschwinden. Sie will wissen, wer da beerdigt wird: Unter ihren Stöckelschuhen knirscht der Kies. Hinter dem frisch ausgehobenen Grab steht ein Holzkreuz mit Lillis Namen drauf. Lilli muss lachen, eine, die genau so heisst wie sie, so ein Zufall, im selben Jahre wie sie geboren und hat offenbar hier gewohnt, sonst würde sie nicht auf diesem Friedhof begraben.» Verwundert nimmt Lilli zur Kenntnis, dass alle ihre Kinder hier versammelt sind, sie die ganze Trauergemeinde kennt. Während sie die Zeremonie beobachtet - nie ganz sicher, ob sie nun wirklich gestorben ist -, erinnert sich Lilli, wie sie als junges Mädchen ihren Mann Alexander bei einer Tanzveranstaltung kennen gelernt hatte, wie sie sich im grossbürgerlichen Haushalt gegenüber ihrer Schwiegermutter durchsetzen musste, wie verzweifelt sie war, als ihr erstes Kind behindert zur Welt kam, bis hin zu ihrem letzten Liebhaber, den sie eigentlich gehasst hat.

Immer wieder wechselt die Autorin die Erzählperspektive, geht ganz nahe an die Figuren ran, zu welchen neben Lilli auch deren drei Kinder Jürg, Simon und Alma gehören sowie Marion, die als 15-Jährige als Haushalthilfe zur Familie stiess. Als Freundin von Mutter und Tochter sowie später als Ersatzmutter des behinderten Jürg besetzt Marion eine zentrale Rolle in der Familiengeschichte, die Christine Rinderknecht fragmentarisch vor uns ausbreitet.

Rätselhafte Sphinx

Zwar bleiben die einzelnen Charaktere wie auch der Ort des Geschehens - irgendeine Stadt im Schweizer Mittelland - seltsam diffus. Und doch gelingt der Autorin mit scheinbar leicht hingeworfenen Szenen ein eindringliches Psychogramm einer mittelständischen, von protestantischer Arbeitsmoral geprägten Familie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die langsam, aber sicher auseinander fällt. Im Zentrum des unterkühlten Familienkosmos sitzt - rätselhaft und unnahbar wie eine Sphinx - die schöne Lilli. Unfähig, ihre Gefühle zu zeigen, lässt sie nicht nur ihre Kinder emotional auflaufen, auch ihrem Mann gegenüber entzieht sie sich immer mehr. Nur unwillig erinnert sich Lilli jetzt an ihn: «Du hast mir gefehlt, sagt Alexander, du warst nicht da, so lange nicht da, wo warst du so lange? Ich war, ja wo war ich denn? Lilli weiss auch nicht, wo sie so lange war. Sie war weg, irgendwo, jetzt wird sie plötzlich rot. In ihrer Brust fängt es an zu zittern, gut, dass ihr Alexander nichts davon weiss. Liebst du mich eigentlich noch, sagt Alexander. Was soll diese Frage jetzt. Lilli schüttelt den Kopf, ich bin müde.»

Jedes von Lillis Kindern litt auf eigene Weise unter der Gefühlskälte der Mutter. Alma, eifersüchtig auf Lillis offen gezeigte Zuneigung zur fast gleichaltrigen Marion, hörte auf zu essen und tut sich ihrerseits später schwer mit dem Lieben. Simon, Lillis Lieblingssohn, fürchtete den Ordnungs- und Reinlichkeitswahn, der im Elternhaus herrschte, und eilt doch zu seiner Mutter, als ihm seine Frau von ihrer unerwünschten Schwangerschaft erzählt. Einzig der behinderte Jürg findet in Marion und ihrem späteren Mann eine Art Ersatzeltern, die allerdings nicht nur aus reiner Menschenliebe handeln, sondern Ansprüche auf Jürgs Erbanteil stellen. Selbst Lillis Enkel, der sich kaum um seinen eigenen Sohn kümmert, kann sich dem Familienmuster nicht entziehen.

Erst ganz am Schluss des Romans, als die tote Lilli ihrer eigenen Mutter wieder begegnet, die gerade dabei ist, Lilli unter Schmerzen zu gebären, schimmert durch, wo all diese Verletzungen ihren Ausgangspunkt nahmen - nämlich bei Emma, Lillis Mutter, die, ungewollt schwanger, widerwillig in die Heirat mit Lillis Vater einwilligt: «Ich liebe dich nicht, ich kann dich nicht lieben. Ich wäre ja dumm, dich zu lieben, genauso gut könnte ich eine Strassenlaterne lieben, einen Baum, den Mond. So langsam dämmert es Lilli, dass es hier um sie geht. Wegen ihr hatte Emma nachgegeben.» Und mit ihrer Geburt findet auch Lilli endlich ihre Ruhe.

Christine Rinderknecht: Lilli. Pendo Verlag. Zürich 2005. 175 Seiten. 32 Franken