Rachel Cusk: Nichts als die Wahrheit

Nr. 29 –

Ist Literatur als Fiktion ein Auslaufmodell und die detaillierte Verschriftlichung des eigenen Lebens der Ausweg? Rachel Cusk demonstriert mit ihrer neuen Romantrilogie, warum das zu kurz gedacht ist.

Die britische Schriftstellerin Rachel Cusk wird oft den neuen «Realitätshungrigen» zugeschlagen. Daran ist sie selbst nicht ganz unschuldig. Vor ein paar Jahren liess sie in einem Interview den Satz fallen, wenn man genug gelitten habe, werde die Vorstellung, «weiterhin Johns und Janes zu erfinden und sie Sachen machen zu lassen, furchtbar lächerlich». Trotzdem wäre es ganz falsch, Cusk als Pendant etwa zum Norweger Karl Ove Knausgard zu sehen, mit dem sie oft verglichen wird. Denn im Gegensatz zu Knausgard und anderen RepräsentantInnen der Autofiktion, die ihr eigenes Leben zum alleinigen Stoff ihrer Bücher machen, liefert Cusk keine ausufernden autobiografischen Alltags- und Gefühlsschilderungen, die Voyeurismus und Identifikationslust der LeserInnen kitzeln.

Ausweg aus der Sackgasse

Mit ihrer nun abgeschlossenen Trilogie, bestehend aus den drei schlanken Bänden «Outline» (2014), «Transit» (2017) und neu «Kudos», ist Rachel Cusk ein sehr viel grösseres Kunststück gelungen: Sie hat sich einen Ausweg aus einer persönlichen Sackgasse als Schriftstellerin geschaufelt und dabei nichts weniger als den Roman neu erfunden. Aber eben nicht als Monumentalisierung des banalen Alltags, sondern als verdichtete Kunstform, die offenbar so täuschend authentisch daherkommt, dass sie von vielen als Realismus missverstanden wird.

Wie muss man sich das vorstellen? Cusks Hauptfigur in der Trilogie ist eine Schriftstellerin namens Faye, frisch geschieden, Mutter zweier Söhne. Sie reist arbeitshalber viel herum, begegnet Menschen an Literaturfestivals, im Transit oder beim Umbau ihres Londoner Hausteils und entlockt ihnen skurrile Episoden oder epische Familiengeschichten. Diese handeln von einem Interviewtermin, bei dem die Interviewerin das ganze Gespräch allein bestreitet und am Ende gleichwohl behauptet, sie habe nun alles, was sie brauche; von einem Bauarbeiter, der sich zu Hause in den polnischen Wäldern ein wunderschönes Haus gebaut hat, für das ihn sein Vater aber hasst; von einem allseits beliebten Schwager, der sich nach der Trennung von seiner Frau als abgrundtief böse entpuppt.

Diese rapportierten Geschichten, die alle um morsche menschliche Beziehungen kreisen, verketten sich zu Stichproben der gegenwärtigen Befindlichkeiten. Oft spielen Hunde eine Schlüsselrolle: Sie wachen über die zerrütteten Verhältnisse und bewahren die Menschen vor dem endgültigen Zerwürfnis. Literarisch aufbereitet ist das mit schwarzer Situationskomik und unbestechlicher Intelligenz. Mit Realismus hat es wenig zu tun. Kein Mensch – auch keine Schriftstellerin – erfährt tagein, tagaus derart viele aufwühlende Geschichten von flüchtigen Bekanntschaften im Flugzeug oder beim Autorinneninterview. Vielmehr zelebriert Cusk die Sprachmacht und Gestaltungskraft der Literatur, die allem Leben und Lebendigen einen entscheidenden Mehrwert ablockt. Entscheidend dabei bleibt: Literatur kann ein Leben auch einfach von Grund auf neu erfinden, was paradoxerweise oft mehr Wahrheit birgt als jede Autofiktion.

Offener Hass

Der Weg – oder vielmehr der Umweg – zu dieser Trilogie und dieser neuen Romantechnik ist bemerkenswert. Nach einer ersten Schaffensphase mit sieben viel gelobten Romanen, in denen Cusk etwa Klassiker der britischen Literatur von «Jane Eyre» bis zu «Mrs. Dalloway» gewitzt verfremdet in die Gegenwart übersetzte, stürzte sie sich selbst regelrecht ins Autobiografische: Sie beschrieb ihre Mutterschaft, Familienferien in Italien, dann die Scheidung und den Streit um die beiden Töchter. Einen platten Voyeurismus hat sie auch in diesen drei Texten nicht bedient. Trotzdem gerieten ihre lebensnahen Schilderungen heftig unter Beschuss. Cusks entwaffnend ehrliche Auseinandersetzung mit ihren ambivalenten Muttergefühlen provozierte wütende Abneigung. Die erste Auflage über den Familienurlaub in Italien musste wegen Protesten eines Beteiligten sogar eingestampft werden.

Nach Veröffentlichung des Scheidungsbuchs «Aftermath» schlug ihr dann auch vonseiten der britischen Presse zum Teil offener Hass entgegen; wobei es weniger um ästhetische Fragen als um die Moral ging. Cusk könne doch nicht als arbeitstätige Mutter das Sorgerecht für die Kinder einfordern, und überhaupt seien diese Schilderungen egozentrisch oder gar wertlos ohne die Perspektiven des Exgatten und der Kinder. Cusk sei eine «kühle kleine Domina und beispiellose Narzisstin, die Gatte und Ehe mit Gusto ausschlachte», schrieb eine preisgekrönte Kolumnistin der «Times» und schloss: «In der Bekenntnisliteratur soll es um die Wahrheit gehen – die ganze Wahrheit.»

Es war ein absoluter Tiefpunkt von Cusks Karriere und vermutlich auch ihres Lebens. Doch das Erstaunliche daran ist: Aus dieser fundamentalen Krise heraus hat die heute 51-Jährige nicht nur eine bestechende neue Schreibweise entwickelt, sondern zugleich eine elegante Lösung gefunden für den schwierigen schriftstellerischen Umgang mit der eigenen Biografie.

Nun hat die Literaturwissenschaft ja schon vor Jahrzehnten die kühne These lanciert, der Autor, die Autorin sei tot. Was schlicht bedeutete, dass uns die biografischen Details einer Schriftstellerin nicht zu interessieren hätten; oder genauer: dass sie für die Deutung des Werks irrelevant seien. Diese These hat zwar den Vorteil der Klarheit, sie läuft aber der Intuition zuwider. Der Verdacht, dass Leben und Literatur komplexer verknotet sind, meldet sich hartnäckig. Mit ihrer Trilogie scheint sich Cusk zumindest implizit in diese Debatte einzumischen – und einen souveränen Ausweg anzubieten. Mit ihrer Hauptfigur inszeniert sie ein cleveres Katz-und-Maus-Spiel rund um die eigene Biografie. Faye ist irgendwie Cusk, die biografischen Eckdaten ähneln sich, aber dann doch wieder nicht. Gleichzeitig hält sie dem Literaturzirkus einen Spiegel vor, etwa dadurch, dass diese Schriftstellerin drei Romane lang kein einziges Wort schreibt. Auch wartet man die ganze Zeit darauf, dass sich dieses zentrale Ich offenbart, endlich mehr von der eigenen Geschichte preisgibt, anstatt immer nur die der anderen nachzuerzählen. Vergeblich.

Wie ein Magnet

Dass sie den ersten Teil ihrer Trilogie «Outline» nannte, liess KritikerInnen behaupten, es müsste sich doch aus diesen Romanen zwingend die Hauptfigur herausschälen, möglichst reich ausgestaltet und psychologisch fein gezeichnet, nur um dann tadelnd nachzuschieben, das sei aber überhaupt nicht der Fall. Fakt ist: Die Hauptfigur und Ich-Erzählerin Faye bleibt über alle drei Teile ein weitgehend leer gelassener Umriss – eine irritierende weisse Silhouette in einem bunten Meer aus Menschen und Geschichten. Nur ist das ganz offensichtlich bewusst so gestaltet worden. Die drei Romane gruppieren sich allesamt um eine fiktive Schriftstellerin als leeres Zentrum, die wie ein Magnet die erzählten Lebensfragmente der andern anzieht: als spannende Alltagsminiaturen ohne Schlüssel oder Pointe, wie Bruchstücke von zerschlagenen Romanen. Zugleich ist diese blendende personelle Leerstelle im Herzen der Trilogie eine so simple wie selbstbewusste Retourkutsche an Cusks KritikerInnen, die ihr während ihrer autobiografischen Phase krankhafte Selbstbezogenheit vorwarfen. Und nicht zuletzt ist diese geheimnisvolle Faye ein präzises, befreiendes Sinnbild für eine Schriftstellerin, die gerade dabei ist, sich und ihre Literatur neu zu erfinden.

Rachel Cusk: Kudos. Aus dem Englischen von Eva Bonné. Auch die ersten beiden Bände der Trilogie, «Outline» und «Transit», sind bei Suhrkamp erschienen. Suhrkamp Verlag. Berlin 2018. 215 Seiten. 29 Franken