Literatur: Tessin, ganz ohne Idylle

Nr. 43 –

Buchcover von «Nicht Anfang und nicht Ende»
Plinio Martini: «Nicht Anfang und nicht Ende». Roman. Limmat Verlag. Zürich 2023. 240 Seiten. 38 Franken.

Zwei neue Ausgaben laden dazu ein, das Werk des grossen Tessiner Autors Plinio Martini zu entdecken und wiederzuentdecken: seinen grandiosen Romanklassiker «Nicht Anfang und nicht Ende» sowie eine Auswahl von noch nie auf Deutsch publizierten Gedichten. Dies aus Anlass des 100. Geburtstags von Martini, der 1979 mit nur 56 Jahren verstarb. Dass Martini zuerst Dichter war, zeigen die von Christoph Ferber stimmig übersetzten Gedichte. In reicher Sprache und elegischem Ton erzählen sie von den Jahreszeiten, vom Dorf, der Natur, von Einsamkeit und Schmerz.

«Nicht Anfang und nicht Ende» spielt im Val Bavona, wo Martini sein Leben verbracht und als Lehrer in Cavergno und Cevio gewirkt hat. Der Roman erzählt die Geschichte von Gori Valdo, der Ende der zwanziger Jahre das Elend in den Tessiner Bergtälern flieht, wie viele in den USA sein Glück sucht und ökonomisch auch findet. Nach siebzehn Jahren unablässigen Heimwehs zurückgekehrt, findet er nichts mehr wieder, wie er es erinnert und erträumt hat. Ernüchtert zeichnet Gori Valdo schonungslos seine Erfahrungen in Kalifornien und die Erlebnisse seiner Kindheit und Jugend auf.

Für Nachgeborene ist kaum vorstellbar, wie Hunger, Krankheiten, Unfälle und Naturkatastrophen das karge Leben der ruralen Bevölkerung damals belastet haben – «als ich zur Schule ging, hatten mehr als die Hälfte meiner Kameraden schon Vater oder Mutter verloren», registriert der Erzähler. «Wir waren eine Insel ausserhalb der Zeit, die letzte Hand voll Mehl auf dem Grund des Sackes» – so erklärt sich der Originaltitel des Romans «Il fondo del sacco».

Martini entwirft ein ungeschminktes Bild des später verklärten und touristisch vermarkteten Tessins. Das packende und raffiniert aufgebaute Buch erzählt aber auch eine tragische und zarte Liebesgeschichte, eine der schönsten der Schweizer Literatur überhaupt. Wie der unbeholfene Gori und die verhalten-selbstbewusste Maddalena, die aus gutem Haus stammt, zueinander finden und sich dann doch verlieren, rührt an und erschüttert.