Krieg gegen die Ukraine: Vom Gefängnis an die Front
Seit Mai erlaubt ein Gesetz auch Häftlingen den Eintritt in die ukrainische Armee. Tausende sind seither in den Kampf gezogen.

Bei einer Waldböschung im Oblast Donezk, unweit von der Front, versammeln sich die neuen Rekruten der «59. motorisierten Brigade» zum Schiesstraining. Im Schatten der Kiefern, die Schutz vor feindlichen Aufklärungsdrohnen bieten, warten die Männer am helllichten Tag, bis sie an der Reihe sind. «Die Nächsten», schreit der Ausbildner, und sie laufen aufs Feld, gehen in die Knie, ducken sich in Gras und Gestrüpp. Meter für Meter trainieren sie, mit Gewehren und Granatwerfern bewaffnet, das Stürmen feindlicher Positionen.
«Sie haben keine Angst vor dem Stürmen, sie haben keine Angst vor der Arbeit. Sie arbeiten einfach, die Jungs sind hervorragend», sagt der 32-jährige Kompaniechef, der sich als Wiktor vorstellt. Aus der Ferne beobachtet er die Soldaten, während ununterbrochen Schüsse fallen. «Die meisten der Burschen sind neu, haben keine Kampferfahrung.»
Nah an der Front
Wiktor stammt aus dem nahe gelegenen Pokrowsk. Möglich, dass er mit seiner Einheit bald in seiner Heimatstadt kämpfen wird, die laut manchen Beobachter:innen nach Awdijiwka und Bachmut zum nächsten grossen Kriegsschauplatz werden könnte. Seit Monaten trainiert er die Neuen, bereitet sie vor. «Sie alle wussten, dass sie in den Donbas geschickt werden», sagt er. Bei der Gruppe handelt es sich nicht um gewöhnliche Soldaten. Noch vor wenigen Wochen sassen die allermeisten von ihnen im Gefängnis.
Wiktor winkt einen der Männer zu sich. Der 24-Jährige mit dem auffälligen rötlichen Geburtsmal auf der Stirn stellt sich als Serhii vor. Er nimmt auf einer leeren Holzkiste Platz, in der sich bis vor kurzem noch Munition befand. Eigentlich habe er bereits kurz nach Beginn der Vollinvasion 2022 in die Armee eintreten wollen, sagt Serhii. «Wie kann man einfach im Gefängnis sitzen und nichts tun?», fragt er. «Früher oder später werden wir alle in den Krieg ziehen müssen. Daran wird sich nichts ändern.»
Doch erst seit einer Gesetzesänderung im Mai ist es Häftlingen erlaubt, in die Armee einzutreten. Davon ausgenommen sind unter anderem Mörder, Vergewaltiger oder korrupte Beamt:innen. Alle anderen können, wenn ihnen nicht mehr als drei Jahre ihrer ursprünglichen Haftstrafe bleiben, das Gefängnis gegen die Front tauschen. In Russland können Häftlinge seit letztem Jahr per Gesetz in den Krieg ziehen, wobei die Wagner-Gruppe laut Medienberichten schon im ersten Kriegsjahr in den Gefängnissen rekrutierte. In der Ukraine seien seit der Gesetzesänderung mehr als 5000 auf Bewährung entlassene Personen in die Armee eingetreten, erklärt das Verteidigungsministerium auf Anfrage, darunter mehr als dreissig Frauen. «Mit mir haben mehr als die Hälfte der Häftlinge das Gefängnis verlassen. Die meisten wollten einfach nur raus, sich betrinken. Aber ich sehe darin keinen Sinn», sagt Serhii.
Er wurde 2021 zu fünf Jahren und einem Monat Gefängnis verurteilt. Er habe Goldohrringe und -ketten aus einer Wohnung gestohlen, um einem Freund zu helfen, der sich eine medizinisch notwendige Operation nicht leisten konnte. «Wenn ich könnte, würde ich die Tat rückgängig machen», sagt er. Vor zwei Monaten ist Serhii in die Armee eingetreten. Zunächst verbrachte er eine Woche auf dem Trainingsgelände, dann wurde er mehrmals für kurze Zeit zu den Stellungen an der Front geschickt, in den echten Kampf. «Wir trainieren immer. Heute kamen wir um drei Uhr morgens hier an», sagt Serhii. «Wir sind immer für den Kampf bereit.»
Gerade im Donbas werden dringend Soldat:innen benötigt, und die Stadt Pokrowsk liegt ganz in der Nähe, hinter den Abraumhalden eines Bergwerks und den weiten Feldern, die die Verteidigung dieser Gegend so schwierig machen. Lange war Pokrowsk ein wichtiges Drehkreuz für humanitäre Hilfe und die Logistik der ukrainischen Truppen. Doch in den vergangenen Wochen konnten die russischen Angreifer erneut kleinere Gebiete in der Gegend einnehmen. Inzwischen liegt die Front nur noch acht Kilometer entfernt.
Dass sich das Trainingsgelände so nahe an der Front befinde, wirke sich positiv auf die Motivation der Soldaten aus, sagt Kompaniechef Wiktor. «Wir müssen nichts vortäuschen und können uns deshalb maximal auf die echten Bedingungen auf dem Schlachtfeld vorbereiten», sagt er. «Aber unsere Jungs sind ohnehin motiviert.»
Es sei lange her, dass die Moral unter neuen Soldaten so gut gewesen sei, pflichtet der Manager des Übungsplatzes bei, der sich mit dem Rufnamen «White» vorstellt. Die ehemaligen Häftlinge hätten eine ähnliche Einstellung wie die Soldaten, die sich zu Beginn des Krieges, in der ersten Hälfte des Jahres 2022, freiwillig gemeldet hätten. «Sie wollen lernen, sie wollen arbeiten, sie wollen sich ständig verbessern, sie wollen den Feind vernichten», sagt White. Er zeigt die Schützengräben im Wald, die Munitionslager, unter einem Holzdach befinden sich Fitnessgeräte und Hanteln.
Die Stimmung in der Einheit sei deutlich besser als bei den mobilisierten Soldat:innen. «Es gibt beinahe keine Freiwilligen mehr», sagt White. «Wer jetzt neu dazukommt, wurde mobilisiert, auf der Strasse oder bei der Arbeit. Manche sind auch schon abgehauen.» Wie viele Soldaten die Armee unerlaubt verlassen haben, ist unklar. Aber allein in den ersten vier Monaten dieses Jahres leiteten Staatsanwält:innen laut dem ukrainischen Parlament Strafverfahren gegen fast 19 000 Personen ein, die ihren Posten unerlaubt verlassen haben oder desertiert sind.
Die Haft vergessen
Vor kurzem wurde bekannt, dass in den kommenden Monaten 160 000 Soldaten für die Armee benötigt werden. Doch viele Männer drücken sich vor der Einberufung. Ein immer wieder genannter Grund: dass es für den Dienst kein absehbares Ende gebe. Man verlasse die Armee entweder tot oder verwundet. Wie angespannt die Lage ist, zeigt auch ein Fall aus Kyjiw, der in den sozialen Medien jüngst hohe Wellen schlug: Nach einem Konzert der bekannten Rockband Okean Elzy kontrollierten Beamte die Dokumente männlicher Konzertbesucher. Ein Video zeigt, wie Polizisten einen schreienden Zivilisten in ihr Auto zerrten.
Der 43-jährige Wadym, der bis vor kurzem in einem Gefängnis im zentralukrainischen Oblast Kirowohrad einsass, sagt, als Soldat sei er zwar nicht frei, aber freier als im Gefängnis. Mit einer Zigarette im Mund löst er an einem Holztisch Patronen aus den Verpackungen und wirft sie in einen Behälter, damit die Soldaten ständig Nachschub für das Training haben. Stundenlang, jeden Tag. Nach Beginn der Invasion habe er das Vieh eines anderen Bauern in seinem Dorf gestohlen, sagt Wadym, es habe Momente gegeben, in denen er und seine Familie kaum etwas zu essen gehabt hätten. Auch seine Haftstrafe lautete fünf Jahre und einen Monat. Wadym sagt, er sei in die Armee eingetreten, um die russischen Soldaten aufzuhalten. «Ich verachte sie», sagt er. «Wir waren wie Brüder. Aber dann wollten sie unser Land, das werden sie nicht so einfach bekommen.»
Serhii und Wadym sagen, sie hätten keine Angst vor dem Tod. «Viele Brigaden schicken die Leute einfach zum Sterben los. Unsere aber lässt ihre Leute nicht zurück, nicht einmal die Toten», sagt Serhii. Seine grösste Sorge ist, invalid zu werden, in einem Land, in dem es keine Infrastruktur für Invalide gibt und die Mittel für Pflege und Versorgung oft nicht reichen – vor allem, wenn man aus ärmlichen Verhältnissen kommt.
Laut den Ausbildnern vor Ort haben die Infanteristen hier eine geringe Überlebenschance. Trotzdem ziehen viele den Kampf einem Leben im Gefängnis vor. «Hier sind wir alle gleich. Es gibt keine Gefängnisregeln mehr. Dass wir in Haft waren, haben wir bereits vergessen», sagt Serhii. In der Armee fühle er sich nützlich. Er hofft, dass der Krieg bald endet und er nach Hause in sein altes Leben zurückkehren kann, zu Wladik, seinem mittlerweile vierjährigen Sohn. Doch bis dahin ist seine Familie eine andere: seine Einheit, die Armee. Laut dem Vertrag, den er unterschrieben habe, dauere sein Dienst bis zum Ende der Kämpfe – und damit möglicherweise länger als die Haft, zu der er ursprünglich verurteilt wurde.