Natalie Zemon Davis (1928–2023): «Die Vergangenheit ist unendlich reizvoll»

Nr. 44 –

Seit den siebziger Jahren hat Natalie Zemon Davis die Möglichkeiten der Geschichtsschreibung für Generationen von Historiker:innen entscheidend erweitert.

1928 in eine jüdische Familie in Detroit geboren, wurde Natalie Zemon Davis für viele zum Role Model. In der McCarthy-Ära erhielt ihr Ehemann, der Mathematiker Chandler Davis, Berufsverbot. Sie selbst musste ihren Pass abgeben und war damit als Spezialistin für die französische Geschichte des 16. Jahrhunderts vom Zugang zu ihren Archiven abgeschnitten. 1962 bekam Chandler eine Stelle an der Universität Toronto, und die Familie mit den drei Kindern folgte ihm. 1971 wurde Davis als Professorin nach Berkeley berufen; 1978 kam sie nach Princeton, wo sie bis zu ihrer Emeritierung 1996 blieb. Als zweite Frau überhaupt wurde Davis 1987 zur Präsidentin der American Historical Association gewählt. Neben zahllosen anderen Ehrungen wurde sie im Jahr 2012 zum Companion of the Order of Canada ernannt und vom US-Präsidenten Barack Obama mit der National Humanities Medal ausgezeichnet.

Methodisch neue Wege

Wie sie in einem Interview erzählte, hatte Davis bereits in ihrer Schulzeit «dieses grosse Vergnügen an Entdeckungen, das bis heute anhält». Mit «Society and Culture in Early Modern France» gelang ihr 1975 ein erster grosser Wurf: In einer Reihe brillant erzählter Fallstudien untersuchte sie das Spannungsverhältnis zwischen Tradition und Innovation im Leben von ganz gewöhnlichen Handwerker:innen, Händler:innen und Armen. Dank ihrer intellektuellen Neugier, ihrer Liebe zum Archiv und ihrem unerschöpflichen Interesse an den Geschichten von Menschen wurde sie zur Protagonistin der neu aufkommenden Historischen Anthropologie. Methodisch innovativ verband sie Fragen der Sozialgeschichte und der Ethnologie und leistete so einen wichtigen Beitrag zur Überwindung der sich damals bereits abzeichnenden Krise der Sozialgeschichte. Das Interesse an Konzepten aus der Ethnologie griff Davis später in ihrem Buch über Geschenke in der Frühen Neuzeit als Formen nichtmarktförmiger Austauschbeziehungen wieder auf.

1983 wurde sie mit ihrem Buch «Die Wiederkehr des Martin Guerre» einem breiteren Publikum bekannt. Das Buch erschien im Anschluss an die Verfilmung einer Skandalgeschichte aus dem 16. Jahrhundert mit Gérard Depardieu in der Hauptrolle, die sie als historische Beraterin begleitet hatte. Ins Zentrum ihrer Geschichte stellte sie die Ehefrau des wahren Martin Guerre. Nachdem Letzterer seine Familie verlassen hatte, deckte seine Ehefrau Betrande jahrelang einen Betrüger, der sich im Dorf als Martin Guerre ausgab. In «Fiction in the Archives» (1987) dann ging sie der Frage nach, welche Erzählstrategien sich einfache Leute in ihren Gnadengesuchen an den französischen König zunutze machten. Hier wie auch in ihren weiteren Büchern liess sie sich immer auch von literaturwissenschaftlichen Fragestellungen inspirieren und reflektierte und erprobte die Möglichkeiten ihres eigenen historiografischen Erzählens.

Seit den neunziger Jahren standen Randfiguren und Grenzgänger:innen zwischen den Welten im Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. In ihrem Buch «Women on the Margins» (auf Deutsch «Drei Frauenleben») setzte sie sich mit den Lebensentwürfen von drei aussergewöhnlichen Frauen im 17. Jahrhundert auseinander: mit der jüdischen Kauffrau Glückel von Hameln, der nach Surinam reisenden Malerin und Naturforscherin Maria Sibylla Merian und mit Marie de L’Incarnation, einer französischen Nonne, die in Quebec die erste Mädchenschule Nordamerikas gründete und sich in der «Indianermission» engagierte. Das Buch war ein Meilenstein für die Frauengeschichte, und es war ein wichtiger Beitrag zu Davis’ Anliegen, die Geschichte von Jüdinnen und Juden als Teil der «allgemeinen» Geschichte zu begreifen.

Zwischen den Kulturen

2006 veröffentlichte Natalie Zemon Davis ihr letztes Buch, über einen ausserordentlichen Grenzgänger zwischen den Kulturen: al-Hasan ibn Muhammad al-Wazzan al-Fasi alias Leo Africanus. Der muslimische Diplomat, Rechtsgelehrte und Reiseschriftsteller aus Marokko wurde um 1490 in Granada geboren. Seine Familie migrierte während der Reconquista nach Fès. Von Piraten gefangen, wurde er 1518 in Rom vom Papst auf den Namen Giovanni Leone de’ Medici getauft.

In den letzten Jahren arbeitete sie intensiv an einer Monografie über Afrikaner:innen, Jüdinnen und Juden und Christ:innen, Sklav:innen sowie Sklav:innenhalter in Surinam. Sie analysierte die Wechselwirkungen von Kultur, Rasse und Macht am Beispiel von David Nassey, einem ehemaligen Konvertiten und Sklav:innenbesitzer aus dem 17. Jahrhundsert. Die bereits veröffentlichten Aufsätze zeigen einmal mehr ihre intellektuelle Breite, ihre Fähigkeit, kulturelle und disziplinäre Grenzen zu überschreiten und methodisch neue Wege einzuschlagen.

Natalie Zemon Davis war eine Historikerin des Dialogs: im Gespräch mit Studierenden und anderen Forschenden ebenso wie in ihrer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Sie suchte und fand im Archiv die Stimmen der anderen. Immer hat sie Geschichte als Möglichkeit begriffen, die Gegenwart differenzierter, sensibler und zugleich auch mit grösserer Distanz zu betrachten. Als Vermächtnis von Davis, die Ende Oktober in Toronto verstorben ist, bleibt ihre Aussage: «Die Vergangenheit ist unendlich reizvoll und bisweilen sogar eine Quelle der Hoffnung.»

Susanna Burghartz ist emeritierte Professorin für Geschichte an der Universität Basel.