Oper: Opulent und fragil

Nr. 44 –

Das Theater St. Gallen zeigt eine so einfühlsame wie schonungslose Oper über die Landschaftsmalerin und trans Frau Lili Elbe. Die Titelrolle spielt die trans Baritonsängerin Lucia Lucas.

Bühnenfoto des Theaterstück «Lili Elbe»
Schmerzhafter Prozess: Mit der Hilfe von Ehefrau Gerda wird Einar Wegener zu Lili Elbe. Foto: Edyta Dufaj

Der Landschaftsmaler Einar Wegener muss Modell sitzen für seine Frau Gerda, die lieber Porträts malt. Nun muss ihr vorgesehenes Modell wegen Krankheit passen und Gerda dringend das Bild zu Ende bringen, schon am nächsten Tag eröffnet ihre neue Ausstellung. Also streift sich Einar Frauenkleider über, gibt sich den Namen Lili Elbe und fühlt sich als Frau wohler als je zuvor. Gerda singt begeistert: «I see a woman, a beautiful woman!», und dass sie ihren Partner als Lili genauso begehrt. Wie heiter der Umgang mit den Geschlechterrollen doch sein könnte!

Mit dieser rasanten Szene beginnt «Lili Elbe», die englischsprachige Oper, die das umgebaute Grosse Haus des Theaters St. Gallen wiedereröffnet. Das Stück sorgte bereits vorab für Furore, da hier das Leben einer berühmten trans Frau mit einer trans Frau in der Titelpartie gezeigt wird. Die Oper hat einen historischen Hintergrund: Lili Elbe wurde 1882 als Einar Wegener in Dänemark geboren und war schon vor der Transition für ihre Landschaftsbilder bekannt. 1930 entschloss sie sich zu geschlechtsangleichenden Operationen in Dresden sowie im progressiven Institut für Sexualwissenschaft in Berlin, das die wissenschaftliche Erforschung des Sexuallebens förderte und ein wichtiger Treffpunkt der queeren Community war. Nach der Uterustransplantation, ihrer vierten Operation, stirbt Elbe, wohl auch an den Folgen des Eingriffs. Ihr Leben ist gut dokumentiert, insbesondere durch ihre persönlichen Aufzeichnungen, die der Oper als Grundlage dienten.

Fast filmische Szenen

Die Heiterkeit der ersten Szene verfliegt aber schnell: Gerda realisiert, wie ernst es Lili mit ihrer Transition ist, und hadert mit der Vorstellung, sie in der Öffentlichkeit als ihre Partnerin vorzustellen. Der erste Akt zeigt einen ganzen Reigen widersprüchlicher Gefühle und grosser Unsicherheiten, er ist aufwendig, fast überbordend inszeniert, mit viel Ma­terial und zahlreichen Menschen auf der Bühne, was stellenweise davon ablenkt, wie fragil die beiden Protagonistinnen sind. Dennoch ist beeindruckend, wie hier in hohem Tempo lebendige, fast filmische Szenen entstehen, mit verschiebbaren Leinwänden, einfachsten Bühnenelementen und viel Farbe: In «Lili Elbe» braucht es keine zwanzig Minuten für ein «Ich liebe dich» wie bei Richard Wagner. Manchmal geht das allerdings zulasten der Musik, die Handlungen, Stimmungen und Gedanken der Figuren zwar stimmig untermalt und mit Zitaten von Zwölftonmusik bis Foxtrott verschiedenste Tonwelten erzeugt, der Handlung aber oft einfach entlangläuft.

Der Ausweg für Gerda, deren Kunst in Kopenhagen auf wenig Gegenliebe stösst, und für Elbe, die sich eingeengt fühlt: der Umzug nach Paris. Und damit wird es auf der Bühne erst richtig opulent: Die wilden, glitzernden 1920er Jahre in Paris werden als der Inbegriff des Fortschritts schlechthin zitiert, was zwar nicht besonders originell ist, aber gut funktioniert, vor allem wegen des Tanzensembles, das in androgynen Glitzerkostümen über die Bühne wirbelt.

Eindrücklich ist der zweite Akt, der sich eingehend mit den schwierigen Momenten in Elbes Leben befasst. Da ist etwa die Heimkehr in die dänische Provinz, wo ihre Mutter in der Küche gerade einen Hasen schlachtet und zuerst noch nett plaudert mit der unbekannten Frau aus Paris, bis sie erfährt, dass es ihre Tochter ist – um dann mit orchestraler Wucht dem Tier das Messer in den Leib zu rammen und zu singen: «I don’t like this.» Oder die Szene, als der Arzt, der Elbe operiert, mit ausgestrecktem Arm die Erschaffung Adams bei Michelangelo imitiert und damit versinnbildlicht, wie Gottes Werk möglich schien Anfang der 1930er Jahre, nur ein Jahr bevor Hitler zum Kanzler gewählt wurde. Wenn in der Schlussszene alle mit schwarzen Regenschirmen am mit Lilien bedeckten Grab stehen, ist das dermassen tragisch, dass es nicht nur Gerda zu Tränen rührt.

Nie mehr über ihren Kopf hinweg

Die Wucht des Stücks verdankt sich nicht nur dem Stoff, sondern auch seiner Hauptdarstellerin Lucia Lucas. In Kalifornien geboren und seit 2009 regelmässig auf Opernbühnen vor allem in Deutschland und den USA zu sehen, entschied auch Lucas 2013 inmitten ihrer Karriere, ihre eigentliche Identität nicht länger zu verheimlichen. Wie bei Lili Elbe war ihr Coming-out öffentlich, und auch sie führte ihre Transition im Ausland durch. «Wie Lili vor dem dänischen König steht, um als Frau legal anerkannt zu werden, und der König meint: ‹Das gab es noch nie›  genau diese Situation der administrativen Überforderung habe ich so oft erlebt», erzählt Lucas im Gespräch.

Auch das «I don’t like this» von Elbes Mutter auf der Bühne ist eine Leihgabe aus Lucas’ eigener Erfahrung. So stehen an diesem Abend eigentlich zwei Frauen auf der Bühne, die Person Lucia Lucas hinter der Figur Lili Elbe (oder ist es umgekehrt?), beide Pionierinnen auf der Suche nach einem Leben ausserhalb dessen, was die Konventionen als möglich vorsehen. Wegbereiterinnen wider Willen: «Wenn ich nochmals achtzehn Jahre alt wäre, würde ich wohl eher Informatik studieren und meine Transition in Ruhe gestalten. Es war eigentlich eine Reihe von Zufällen, die mich hierhin führte», kommentiesrt Lucas ganz nüchtern ihre Biografie.

Ihre persönliche Nähe zum Stoff scheint Lucas zur Höchstform auflaufen zu lassen; einfach sei die Entwicklung des Stücks aber nicht gewesen, erzählt sie. Sie habe bei jeder Probe irgendwann weinen müssen. Das Projekt war eine neue Erfahrung für die Baritonsängerin: «So oft wurde vorher über meinen Kopf hinweg bestimmt, wie eine trans Frau auf der Bühne darzustellen ist. Ich wollte diese Situation nie mehr erleben.» Das Produktionsteam von «Lili Elbe» und das Ensemble in St. Gallen dagegen hätten keine Mühe gescheut, um die Geschichte Lili Elbes so zu zeigen, dass sich Menschen mit eigener trans Geschichte angemessen repräsentiert fühlten, inklusive aktivem Austausch mit der lokalen queeren Community.

Neue Realität für die Oper

Völlig fremd ist der Oper das Spiel mit sozialen und Geschlechterrollen nicht, insbesondere in Werken aus dem 17. und 18. Jahrhundert ist das Verkleiden und Verwechseln von Frau und Mann ein häufiges Motiv. Trotzdem ist der Blick auf Lili Elbe ein ganz und gar heutiger, auch wegen vieler weiterer Themen, die geradezu radikal wirken, wenn sie auf einer Opernbühne verhandelt werden.

Da ist etwa die Beziehung Gerdas zu einem gewaltvollen Mann, nachdem sie sich von Elbe getrennt hat; das furchtbare Leid der Frau, die ohne jegliche Einwilligung von ihr selber oder von Elbe ihren Uterus spenden muss; oder die Vermessenheit der damaligen Medizin. So wird an diesem Abend in St. Gallen deutlich, dass auch in einem traditionsverliebten Genre wie der Oper eine neue Gegenwart Platz finden kann.

Übrigens wurde das Institut für Sexualwissenschaft 1933 von den Nazis geschlossen und sein Bibliotheksbestand verbrannt. Vielleicht ist dies die wichtigste politische Erkenntnis dieser Oper: dass Fortschritt eben nicht linear ist, sondern gleiche Rechte für alle hart erkämpft werden müssen, auf der und abseits der Opernbühne.

«Lili Elbe»: Oper in zwei Akten. Musik: Tobias Picker, Libretto: Aryeh Lev Stollman. Konzert und Theater St. Gallen, bis 3. Dezember 2023.