Durch den Monat mit Uschi Waser (Teil 2): Hat Bundesrätin Keller-Sutter geantwortet?

Nr. 45 –

Uschi Waser erklärt, was sie unter einer «unbürokratischen Rente für seelische Schrotthüfeli» versteht – und warum eine solche den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zustehen würde.

Portraitfoto von Uschi Waser
«Ich bin bis heute weder im Besitz einer Antwort vom Bundesrat, noch wüsste ich etwas von einer»: Uschi Waser.

WOZ: Uschi Waser, im Zusammenhang mit den «Kindern der Landstrasse» sowie allgemein mit Menschen, die fürsorgerisch zwangsversorgt wurden, taucht immer wieder das Wort «Wiedergutmachung» auf …

Uschi Waser: (Verschluckt sich beim Teetrinken und hustet.) Ich habe nicht diese Bildung, die Sie haben, aber ich finde dieses Wort schwierig. «Rehabilitation» wäre wohl besser.

Kann denn der Staat etwas «wiedergutmachen» für die Menschen, die noch heute unter den Zwangsmassnahmen von damals leiden?

Nein, man wird es nie «wiedergutmachen» können. Wie kann man schon nur den Schaden berechnen, der uns allen entstanden ist?

1986 entschuldigte sich Alphons Egli als erster Bundesrat öffentlich bei den Opfern der «Kinder der Landstrasse», seither gab es immer wieder Entschuldigungen von öffentlicher Seite. Taten folgten jedoch nur zögerlich.

Ich habe einigen Bundesrätinnen und Bundesräten die Hand geschüttelt und gebetsmühlenartig erzählt. Die letzte Hand war die von Karin Keller-Sutter …

Keller-Sutter hat 2019 die Leitung des Justiz- und Polizeidepartements von Simonetta Sommaruga übernommen, diese hatte sich 2013 bei allen Opfern öffentlich entschuldigt. Ausserdem hatte der Bundesrat eine Unabhängige Expertenkommission beauftragt, die das Thema untersuchte. Als diese 2019 den Schlussbericht präsentierte, sagte Keller-Sutter, es würde eine Antwort geben …

Genau. Und wo ist die? Ich bin bis heute weder im Besitz einer Antwort, noch wüsste ich etwas von einer. Aber vielleicht denkt sie, dass sie noch wartet, weil zurzeit noch Nationalfonds-Projekte zum Thema in der Schlussphase sind. Aber dass ich das denke, ist wohl meiner absoluten Grosszügigkeit zu verdanken. Denn tatsächlich hätte Frau Keller-Sutter in diesen vier Jahren ja mal Stellung nehmen können.

Seit 2017 ist das «Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981» in Kraft. Darin festgelegt ist auch ein Solidaritätsbeitrag für Betroffene.

25 000 Franken pro Person … Ich will nicht sagen, dass sie ein Tropfen auf den heissen Stein sind, aber viele denken: «Läck, die bekommen 25 000, wow.» Was noch nie jemand ausgerechnet hat: Was es den Staat gekostet hätte, wenn ich damals, als ich meine Akte las, gesagt hätte: «Ich kann nicht mehr, für uns muss jemand schauen.» Man hat uns ja so kaputtgemacht, dass wir bis heute seelische Krüppel sind. Und dann gibt es viele, deren Traumata an die nächste Generation weitergegeben werden – aber natürlich auch solche, die es irgendwie schaffen, dass das nicht passiert.

Man muss wohl eine riesige Kraft haben, um so ein Trauma nicht weiterzugeben.

Ich würde es nicht Kraft nennen. Ich glaube, ich selber habe ein Riesenglück gehabt und bin auch unheimlich dankbar, dass ich meine zwei Töchter so gut durchgebracht habe. Keine Ahnung, wie ich reagiert hätte, wenn sie zum Beispiel ein Suchtproblem gehabt hätten. Ich wäre damit nicht fertiggeworden, weil mir das Verständnis dafür gefehlt hätte.

Kürzlich ist das Buch «Landstrassenkind» erschienen, in dem Michael Herzig die Geschichte von Christian Mehr und seiner Mutter, der letztes Jahr verstorbenen Autorin Mariella Mehr, erzählt. Beide waren «Kinder der Landstrasse», im Buch geht es auch um die vererbten Traumata, um Sucht und Gewalt (vgl. «Kuhschweizer machen»).

Die Geschichte von Christian und Mariella ist erschütternd. Ich habe Mariella gekannt, sie war eine beeindruckende Frau. Wir hatten eine gute Zeit, aber irgendwann konnte ich wegen ihrer Alkoholprobleme nicht mehr mit ihr arbeiten. Aber wir blieben in Kontakt. Und Christian ist ja auch eine arme Seele! Er leidet bis heute unglaublich an den Folgen seiner Verbrennungen.

Er wurde als Zweijähriger bei seiner Pflegemutter in einem Zuber mit kochend heissem Wasser am ganzen Körper verbrannt.

Furchtbar. Da sind wir wieder beim Thema «Wiedergutmachung»: Dass ihm einfach 25 000 Franken zugesprochen werden, ist beschämend. Da müsste der Staat ganz woanders ansetzen. Christian würde das vielleicht gar nicht wollen, aber: Ihm müsste der Staat etwa die Zusatzversicherung auf Lebenszeit zahlen. Das wäre er Menschen wie ihm schuldig.

Oder schauen Sie: Ich bin nie zu einem Psychologen oder einer Psychiaterin gegangen, habe nie eine Schrei- oder Gumptherapie besucht, sondern immer alles mit mir selbst ausgemacht. Ohne einen Schluck Alkohol, ohne eine Tablette, nichts. Selbst wenn ich eine Therapie hätte machen wollen, hätte ich ja das Geld nicht aufbringen können, um den Selbstbehalt zu bezahlen. Das könnte der Staat für alle fürsorgerisch Zwangsversorgten übernehmen. Das wäre ein wichtiger Teil der Rehabilitation.

Sie haben dafür einen anschaulichen Begriff …

Ich nenne es immer eine «unbürokratische Rente für seelische Schrotthüfeli». Genau das würde uns zustehen.

Als Kind einer jenischen Mutter wurde Uschi Waser (71) als Halbjährige von der Polizei abgeholt und im Auftrag der Pro-Juventute-Stiftung «Kinder der Landstrasse» in das bereits dritte Kinderheim gesteckt.