Durch den Monat mit Uschi Waser (Teil 5): War wirklich ein Schulaufsatz fürs Urteil entscheidend?

Nr. 48 –

Uschi Waser fordert seit Jahrzehnten eine juristische Überprüfung der Akten von sexuell missbrauchten administrativ versorgten Menschen. Im Interview erzählt sie vom Verrat einer Nonne.

Portraitfoto von Uschi Waser
«Im Schlussurteil steht dann auch, dass ich mir eigentlich nie widersprochen hätte, aber da sei halt dieser Aufsatz»: Uschi Waser.  

WOZ: Uschi Waser, vor fünfzig Jahren wurde das «Hilfswerk» für die «Kinder der Landstrasse» aufgelöst, das rund 600 jenische Kinder ihren Eltern weggenommen hatte, um sie zu sesshaften Bürger:innen umzuerziehen. Wäre dieses «Jubiläum» nicht eine Gelegenheit für den Bund und Pro Juventute, mit Veranstaltungen und Podien auf dieses unsägliche Stück Geschichte aufmerksam zu machen?

Uschi Waser: Vom Bund laufen ja seit längerem Studien. Und was Pro Juventute betrifft: Egal was sie machen, es ist in den Augen von vielen Jenischen sowieso falsch. Vielleicht macht die Stiftung darum lieber gar nichts. Aber für mich ist es eine Gelegenheit, im Zusammenhang mit diesem «Jubiläum» die Finger einmal mehr auf die Dringlichkeit der juristischen Aufarbeitung zu legen.

Was fordern Sie konkret?

Viele Buben und Mädchen wurden in den Heimen oder Pflegefamilien sexuell missbraucht. Wie viele das waren, weiss man nicht. Doch in einigen Fällen wurden Strafverfahren eingeleitet. Und man kann davon ausgehen, dass die Justiz oft zum Nachteil der Opfer entschieden hat, denn deren Stimmen galten ja nichts. Deswegen muss die damalige Strafjustiz juristisch überprüft werden. Das fordere ich bei jeder Veranstaltung seit Jahren. Immer nicken alle, aber diesbezüglich passiert nichts.

Wurde die Forderung nach juristischer Überprüfung auch nicht in die Empfehlungen der Unabhängigen Expertenkommission «Administrative Versorgung» von 2019 aufgenommen?

Nein. Und ich bin überzeugt, dass in ganz vielen Akten Dinge stehen, die vor einer juristischen Prüfung nicht bestehen würden. Ich kann Ihnen ein konkretes Beispiel nennen, natürlich nur anhand meiner Akten. Mein Stiefvater hat mich jahrelang missbraucht. Und in der Nacht vor meinem 14. Geburtstag wurde ich vom Bruder meiner Mutter vergewaltigt. Am nächsten Morgen steckte man mich ins Erziehungsheim «Zum Guten Hirten» in Altstätten hinter drei Meter hohe Mauern und Stacheldraht. Niemand hat sich nach meinem Befinden erkundigt. Ich war tot … tot.

Kurz darauf habe ich meinem damaligen Vormund einen Brief geschrieben, dass ich missbraucht worden sei. Es kam zu Untersuchungen und zwei Verfahren. Sowohl der Stiefvater wie der Onkel wurden freigesprochen. Erst Jahre später beim Lesen der Akte habe ich verstanden, was da gelaufen war.

Was war gelaufen?

Als ich meine Akten gelesen habe, fand ich heraus, dass Schwester Margarethe, eine Nonne aus dem Heim, in dem ich war, einen Schulaufsatz von mir der Verteidigung meines Stiefvaters hatte zukommen lassen.

Wie bitte?

Sie müssen sich vorstellen, ich war «notengeil». Ich hatte immer das Gefühl, ich müsse beweisen, dass mal etwas aus mir würde. Auch bei diesem Aufsatz mit dem Titel «Mein Spiegelbild. Wie ich mich sehe» hatte ich alles gegeben. Ich habe geschrieben, ich müsse lernen, mit der Wahrheit umzugehen und meine Fantasie zu zügeln. Ich hatte eine glatte Sechs für den Aufsatz bekommen, unter anderem, weil ich mich so selbstkritisch dargestellt hatte, wie das von mir erwartet wurde. Und dann finde ich diesen Aufsatz in den Gerichtsakten mit folgender Notiz: «Wir legen Ihnen noch einen Aufsatz, den Ursula vor einem Jahr schrieb, bei. Vielleicht gibt er Ihnen auch noch einige Anhaltspunkte.» Beim Lesen ist für mich eine Welt zusammengebrochen, mein Herz und meine Seele sind verreckt. Das war der Tiefpunkt meines Lebens. Im Schlussurteil steht dann auch, dass ich mir eigentlich nie widersprochen hätte, aber da sei halt dieser Aufsatz …

Ein Schulaufsatz war für das Urteil entscheidend?

Genau. Sie haben mich einfach in den Dreck gezogen, und dafür müssten sich alle Beteiligten schämen. Ich weiss, man kann heute niemanden mehr schuldig sprechen. Aber wenn es nicht rechtens war, was da passiert ist, muss man das doch heute eingestehen können – oder es mir wenigstens erklären. Sicher gibt es noch viel mehr solche Fälle.

Schwester Margarethe hat Sie verraten.

Ja, furchtbar. Aber was noch interessant ist: Vor kurzem habe ich im Netz nach dem Heim gesucht und gesehen, dass diese Nonne noch lebt. Im Zusammenhang eines Projekts zur administrativen Versorgung in Bern fragte mich der Projektleiter, ob ich sie treffen wolle, er könne das organisieren. Zu meiner Überraschung sagte sie zu. Nächte zuvor studierte ich daran rum, dass ich die von ihr erstellten Zeugnisse mitnehmen würde, und überlegte, was ich ihr sagen würde. Am Morgen jenes Tages ruft mich der Projektleiter an und sagt: «Ich habe schlechte Neuigkeiten: Schwester Margarethe ist diese Nacht verstorben.»

Nicht möglich!

Doch. Sie wollte mich wohl nicht mehr sehen. Und so ist auch dieser Zug abgefahren. Und wir Zeitzeugen werden ja auch nicht jünger: Auch deswegen ist es wichtig, dass die juristische Aufarbeitung jetzt angegangen wird und nicht von den Behörden weiter ausgesessen wird, bis meine Stimme verstummt.

Ihre Gerichtsakten musste Uschi Waser (71) mehrmals anfordern, bis sie ihr ausgehändigt wurden. Sie wurden ihr mit unterschiedlichen Begründungen verweigert. Auf ihrem Instagram-Account «Kind der Landstrasse» gibt sie Einblick in das vergessene Stück Schweizer Geschichte, für dessen Sichtbarkeit sie seit 1989 kämpft.

WOZ Debatte

Diese Debatte ist abgeschlossen. Diskutieren Sie bei unseren aktuellen Themen mit! Wenn Sie eine Anmerkung zu diesem Artikel haben können Sie auch gerne einen Leser:innenbrief schreiben.

Kommentare

Kommentar von _Kokolorix

Fr., 01.12.2023 - 08:55

Es wäre schon wünschenswert, wenn der Aufarbeitung solcher Fälle etwas mehr, dafür der lustvollen Verfolgung von Klimaprotestler*innen etwas weniger Engagement zukommen würde …