Literatur: Eine Reise ins «Terrorland»
«Schüsse in den Gassen von Diyarbakır. Die zurechtgemachte Nachrichtensprecherin kündigt mit kühler Stimme an, dass die Anschläge nicht ungestraft bleiben werden.» Im Fernsehen wird eine Karte der ganzen Türkei eingeblendet; der kurdische Osten, wo auch die Stadt Diyarbakır liegt, ist rot markiert. Die Sprecherin warnt vor Reisen ins «Terrorland». Genau dorthin ist Dilan unterwegs, einer impulsiven Entscheidung folgend und auf der Suche nach der eigenen, verschütteten Geschichte.
Dilan ist die Ich-Erzählerin in Beliban zu Stolbergs Debütroman «Zweistromland». In Deutschland aufgewachsen, zieht sie als Erwachsene nach Istanbul. Im Herbst 2015 kommt es zu gewaltsamen Zusammenstössen zwischen Kurd:innen und dem türkischen Militär in Diyarbakır; die gut dreissigjährige Dilan verfolgt die Ereignisse und stellt sich zunehmend Fragen: Wieso reden ihre Eltern Türkisch mit ihr und nutzen das Kurdische nur unter sich? Was ist ihnen in Diyarbakır während der Militärdiktatur in den Achtzigern zugestossen?
Als Kind findet Dilan in den Sommerferien eine alte Kassette aus jener Zeit. Darauf ist ihr Vater zu hören, wie er eine kämpferische Rede hält – sie selbst nimmt ihn als angepasst wahr. Dieser Kindheitssommer ist auch von ihrem phantomhaften Bruder geprägt, der nur zeitweise mit ihr und den Eltern wohnt, sich den ganzen Tag im Zimmer verschanzt und Dilan grosse Angst einjagt. Viele Jahre später stösst sie in den Archiven Diyarbakırs und auf Besuch bei ihrer Tante in einem kurdischen Dorf auf weitere Bruchstücke der Familienvergangenheit.
Die Autorin lässt die verschiedenen Erzählzeiten und Themen raffiniert ineinandergreifen. Der Roman überzeugt mit seinen lebendigen Einblicken in die kurdische Geschichte und Gegenwart. Gleichzeitig ist er eine persönliche Auseinandersetzung mit familiären Beziehungen, die von Migration und den Folgen von Gewalterfahrungen geprägt sind. Die Familiengeheimnisse, eng verflochten mit der politischen Situation, lichten sich gegen Ende des Romans, ohne jedoch komplett aufgedeckt zu werden.