Literatur: Als sich die Gräben öffnen

Nr. 33 –

«Die eine hört von früh bis spät ukrainische Lieder, und der andere dreht den Fernseher auf die volle Lautstärke und applaudiert, wenn Putin in den russischen Nachrichten gezeigt wird.» Mascha weint, als sie Olga erzählt, dass ihre Eltern sich wegen unterschiedlicher politischer Ansichten getrennt haben – ein Grund, den Mascha selbst absolut lächerlich findet. Sie ist die beste Freundin der Ich-Erzählerin Olga in Irina Kilimniks Roman «Sommer in Odessa».

In diesem Sommer im Jahr 2014 hat der Krieg in der Ostukraine bereits begonnen, die Krim ist von Russland besetzt, in vielen Familien öffnen sich tiefe Gräben. Derweil ist Olga mit ihrem Medizinstudium beschäftigt, das ihr von ihrer Familie aufgedrückt wurde, mit dem Mitstudenten, der unglücklich in sie verliebt ist, und mit der selbstbezogenen besten Freundin Mascha. Gleichwohl erlebt sie nach dem Euromaidan und dem Sturz von Wiktor Janukowitsch die zunehmend aufgeheizte Stimmung mit.

Als sie an einer Demonstration teilnimmt, kommen angesichts der vielen nationalistischen Symbole Gefühle der Beklemmung hoch. Von einem Bekannten wird sie wegen ihres Grossvaters angegangen: «Solche alten Kommunistensäcke kann ich nicht ausstehen.» Olgas Opa hält die sowjetische Vergangenheit hoch. Ansonsten tut er sich als launiger Patriarch hervor, der im weiblich dominierten Haushalt das Zepter führt und den Rest der Familie emotional unter Druck setzt. Wenn Olga nach Hause kommt, sieht sie sich oft mit einer Schimpftirade konfrontiert.

Irina Kilimnik, die Anfang der neunziger Jahre als Fünfzehnjährige mit ihrer Familie aus der Ukraine nach Deutschland ausgewandert ist, stellt mit Olga eine Protagonistin ins Zentrum, die ihre eigene Emanzipation als junge Frau in Odesa verfolgt. Die Ereignisse in der Ukraine im Jahr 2014 fügen ein neues Element mit viel Sprengkraft hinzu. «Sommer in Odessa» gibt berührende und aufschlussreiche Einblicke in die Wechselwirkung von Alltag, familiären Konflikten und gesellschaftspolitischen Prozessen. 

Buchcover von «Sommer in Odessa»
Irina Kilimnik: «Sommer in Odessa». Kein & Aber. Zürich 2023. 288 Seiten. 34 Franken.