Rundgang in Zug: Unruhe im Steuerparadies
Zug ist der Kanton mit der tiefsten Steuerbelastung. Jetzt soll sie weiter sinken und noch mehr Geld anlocken. Doch schon heute stossen die vielen Reichen auf Ablehnung.
«Früher», sagt Osy Zimmermann, «wohnten hier einfachere Leute.» Wir sind mit dem 77-jährigen Sänger, Kabarettisten und Träger des Salzburger Stiers unterwegs in der unteren Altstadt von Zug. Zimmermann kennt die jüngere Geschichte Zugs aus eigener Anschauung. «Hier gab es kleine Handwerksbetriebe und Quartierbeizen.» Jetzt prangt farbenprächtiger Wohlstand an den Altstadtfassaden. Alt ist hier nichts mehr. Wo früher eine beliebte Quartierbeiz war, können Betuchte in eines der besten Boutiquehotels der Schweiz einchecken, ins «La Colombe» – für 400 bis 500 Franken die Nacht. Teil des Hotels ist das Restaurant Taube, auf der Seeterrasse kann man sich an einem Gourmetmenü aus der durch Michelin geadelten Küche gütlich tun. Die Handwerksbetriebe sind weitgehend verschwunden, viele Liegenschaften wechselten für Millionen die Hand.
Die schattigen Gassen der Altstadt wirken an diesem Nachmittag Anfang November leblos. Wir passieren Relikte der alten Stadtmauer, gehen vorbei am Casinotheater, vorbei am ehemaligen Sitz der Menzinger Schwestern, wo heute gewohnt und nicht mehr gebetet wird, dann einen steilen Pfad hinunter zur städtischen Badi Seeliken. Osy Zimmermann hebt die Hand zum Gruss, Altregierungsrat Patrick Cotti ist eben erst aus dem etwa elf Grad kalten Zugersee gestiegen, der 59-Jährige wirkt fit wie ein Turnschuh. Ein kurzer Schwatz unter Zugern, ehe Zimmermann zur Seebadi hinuntertrabt.
Am relativ knapp bemessenen Uferabschnitt, einer Art «Dorfplatz» der Stadt, waren die Zuger:innen in den warmen Monaten einst weitgehend unter sich. Mittlerweile fühlen sich manche Alteingesessene an schönen Sommertagen an den Rand gedrängt. Denn die Expatgemeinde hat die Badi für sich entdeckt.
Eine Zugerin, die seit Jahren in der Badi verkehrt, schildert die Entwicklung der letzten Jahrzehnte. «English please», heisse es schon mal, wenn man die Expats in der Badi anspreche. «Nichts gegen diese Menschen, aber die Entwicklung überfordert Zug», sagt die Frau. Wer mit Zuger:innen spricht, hört viel Kritik an der Zuwanderung vermögender Ausländer:innen. Aber nur hinter vorgehaltener Hand. Die Rede ist von «Koksnasen», die unangenehm auffielen. Von einer Cüpligesellschaft in ganz eigenen Sphären. Gut möglich, dass die Steuersenkungsvorlage, über die der Kanton Ende November an der Urne befindet, abgelehnt wird. Denn die Zuger Paradiesgesellschaft wirkt wie eine Parallelgesellschaft, globalisiert, aber auch entrückt. 162 Nationen leben in einem der kleinsten Kantone der Schweiz zusammen – oder womöglich bloss nebeneinander her?
Unermesslicher Wohlstand
Trennend wirkt, das wird bei näherer Betrachtung klar, weniger die unterschiedliche Herkunft als vielmehr der ungleich verteilte Wohlstand. Was die Zuger Gesellschaft auseinandertreibt, ist Geld. Viel Geld, zu viel Geld. Der enorme Reichtum des kleinen Kantons hat seine Wurzeln im frühen 20. Jahrhundert, als bürgerliche Politiker:innen die Grundlagen für die Tiefsteuerstrategie legten. Das Unheil baute sich unmerklich auf und entfaltete seine Wucht ab Anfang der achtziger Jahre. Damals lebten im Kanton 76 000 Menschen, heute sind es 131 000, das entspricht einem Bevölkerungszuwachs von etwa siebzig Prozent.
Der Ausländer:innenanteil liegt über dem Schweizer Durchschnitt bei knapp dreissig Prozent. Die grössten Gruppen sind in dieser Reihenfolge Deutsche, Italiener:innen, Brit:innen, Portugiesen und Spanierinnen. Auch die Gemeinde der Russ:innen ist mit beinahe tausend Personen in den vorderen Rängen der Ausländer:innenstatistik zu finden. Diese spiegelt die Zuger Ökonomie. Der Dienstleistungssektor dominiert mit einem Anteil von 87 Prozent, 10 Prozent über dem Schweizer Durchschnitt, dafür sind das produzierende Gewerbe und die Industrie mit bloss 9 Prozent marginalisiert (Schweiz: 20 Prozent). Rohstoffkonzerne sind hier bekanntlich domiziliert, auch russische. Putins undurchsichtiges Oligarchennetzwerk finanziert auf der Drehscheibe Zug den Krieg gegen die Ukraine mit. Auch die Kryptobranche hat sich im Kanton angesiedelt, zahlreiche Finanzdienstleister kümmern sich um die Vermögenden.
Zug wird mit Geld geradezu geflutet – seit 2018 verzeichnet die Staatskasse hohe Überschüsse. Der Kanton weist aktuell ein Eigenkapital von 2,4 Milliarden Franken aus. Es wird weiter anschwellen. Wie Finanzdirektor Heinz Tännler (SVP) der WOZ sagt, wächst es bis ins Jahr 2030 voraussichtlich auf 3 bis 4 Milliarden an. Selbst wenn die Steuern weiter sinken. Denn die Anhebung der Unternehmenssteuern auf fünfzehn Prozent, wie von der OECD verlangt und von den Schweizer Stimmbürger:innen abgesegnet, spült noch mehr Steuergelder in die Staatskasse. «Es geht bei der aktuellen Vorlage zur Hauptsache um die Senkung der Vermögenssteuern, wir sind bloss noch die Nummer sieben im Land und müssen uns anstrengen», sagt Tännler. Ausserdem ergebe es keinen Sinn, Steuern auf Vorrat zu erheben.
Nehmen die Zuger Stimmbürger:innen die Vorlage an, werden die Steuerzahler:innen um 120 Millionen Franken entlastet. Profitieren im grossen Stil werden Leute, die sehr gut verdienen und über grosse Vermögen verfügen. Gut möglich, dass dann noch mehr Reiche Zug als Steuersitz wählen. Das Geschäftsmodell läuft wie geschmiert. Ausser für jene, die sich Zug nicht mehr leisten können. Heinz Tännler bestreitet die hohen Miet- und Lebenshaltungskosten nicht, «aber wir tun auch viel für die breite Bevölkerung», behauptet er. Etwa in der Wohnbauförderung. Tännler erwähnt ausserdem die Prämienverbilligungen: «Im Gegensatz zu anderen Kantonen kürzen wir hier nicht.»
Wohnen wird zum Luxus
Der ungleich verteilte Reichtum ist dennoch ein Problem für die breite Bevölkerung. Er manifestiert sich in hohen Lebenshaltungskosten und exorbitanten (Neu-)Mieten. Wie an anderen vergleichbaren Orten, etwa im Oberengadin, erdrückt und verdrängt dieser Überfluss Menschen mit kleineren Einkommen. Wer keine bezahlbare Wohnung findet, zieht weg, oft gleich über die Kantonsgrenze. Von 2011 bis 2021 verliessen rund 30 000 Menschen Zug, etwa 10 000 von ihnen zogen in einen Nachbarkanton. Etwa nach Sins im Aargauer Freiamt. Dort spricht man spöttisch vom «Zuger Hügel». Dennoch nahm in diesem Zeitraum die Bevölkerung Zugs sogar leicht zu.
Zugespitzt kann man folgern: Tiefe Steuern ziehen Reiche an und verdrängen Arme und Mittelstand. Irgendwann ist die Bevölkerung derart homogenisiert, dass die Tiefsteuerpolitik für alle stimmt, weil es nur noch Reiche gibt.
Professor Michael Graff von der Konjunkturforschungsstelle der ETH hat die gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Tiefsteuerpolitik untersucht. Er spricht von der «dunklen Seite» des Steuerwettbewerbs, die zu sozialer Segregation führe. In seiner Studie aus dem Jahr 2019 formuliert er es so: «Das Ergebnis ist eine Entmischung der Bevölkerung mit einer Konzentration von Bessergestellten an Orten mit niedrigen Steuersätzen für die höchsten Einkommen und reichlich sprudelnden Steuererträgen bei gleichzeitig geringem Aufwand für soziale Transferleistungen auf der einen Seite.» An anderen Orten komme es im Gegenzug zu einer Konzentration von Schlechtergestellten.
Ein paar Klicks auf Immobilienplattformen veranschaulichen eine für alle wahrnehmbare Facette des Zuger Wahnsinns: Eine 7-Zimmer-Wohnung in der Stadt Zug mit 240 Quadratmetern kostet 25 000 Franken Monatsmiete; ein «Studioapartment Junior», 26 Quadratmeter, 3101 Franken; und wer in die 3,5-Zimmer-Wohnung, 102 Quadratmeter, einziehen möchte, sollte 5935 Franken erübrigen können.
Der frühere Lokalpolitiker Andreas Bossard beobachtet diese Entwicklung schon lange mit Sorge. Er nennt ein Beispiel. Als eine 4-Zimmer-Wohnung für 2200 Franken ausgeschrieben war, habe ein Expat 1000 Franken mehr geboten – und die für Zuger Verhältnisse günstige Wohnung war vom Markt. Er schätzt, dass allein in der Stadt Zug 300 bis 400 Wohnungen nicht ganzjährig bewohnt sind. «Da gehen Lichter automatisch an, damit der Eindruck entsteht, hier wohne jemand. Doch in der Tiefgarage setzen Luxuskarossen Staub an.» Dass sich reiche Menschen aus steuerlichen Gründen einen Wohnsitz halten, aber nicht hier leben, ist eine naheliegende Vermutung. «Ich finde diese Entwicklungen ungerecht, auch wenn ich persönlich als Besitzer von zwei Altliegenschaften von der Steuerpolitik profitiere. Sie verändert die Demografie und die Identität der Quartiere.» Im Stadtteil Oberwil sei von ursprünglich fünf Quartierläden noch einer übrig, sagt er.
Andreas Bossard überblickt einen langen Zeitraum. Der 72-Jährige politisierte für die Christlichsozialen (CSP) achtzehn Jahre im Kantonsrat und bis 2014 zwölf Jahre im Stadtrat. Damals besetzten linke Parteien drei von fünf Stadtratssitzen und zwei Sitze in der Kantonsregierung. Heute ist noch ein Stadtratssitz übrig. Das liegt daran, dass die bürgerlichen Parteien 2014 das Majorzwahlsystem durchsetzten, um insbesondere den Einfluss der starken linken und sozialen Kraft «Die Alternative – Grüne Zug» (ALG) einzudämmen. Bei den nationalen Wahlen, hier gilt der Proporz, erzielte die ALG trotz der Probleme der Grünen ein vergleichsweise starkes Ergebnis – sie verlor 1,2 Prozentpunkte, ihr Wähler:innenanteil liegt nun bei gut 17 Prozent. Für den Nationalratssitz von Manuela Weichelt reichte es.
Subventionen für Privatschulen
Wer am Bahnhof Zug aussteigt, trifft auf Stadtmauern der anderen Art. Es sind in die Tiefe gestaffelte, abweisende Betonburgen, durch die der Besucher den Weg ins Innere der City suchen muss. Luzian Franzini erwartet uns in der Bahnhofshalle. Der 27-Jährige politisiert bereits seit vier Jahren im Kantonsparlament, er ist Kopräsident der Alternative und präsidiert den kantonalen Gewerkschaftsbund. Die ALG wehrt sich zusammen mit der SP und der CSP gegen die Auswüchse der Tiefsteuerpolitik. «Bei der aktuellen Steuersenkung, die wir bekämpfen, wird es nicht bleiben», befürchtet er. Die OECD-Steuern spülen noch mehr Geld in die Staatskasse, die Rede ist von zusätzlichen 300 Millionen Franken.
Weil mächtige OECD-Länder es mit der Umsetzung nicht eilig haben, wird sich diese wohl auch in der Schweiz verzögern. Gleichwohl wälzen die Bürgerlichen bereits Ideen, wie sie die erwarteten Mehreinnahmen zurückverteilen können. Überlegungen, die nach aussen dringen, aber nicht spruchreif sind: etwa die Subventionierung von Büromieten oder Sozialversicherungsbeiträgen von Unternehmen. Und Rohstofffirmen könnten Steuergelder erhalten, um Nachhaltigkeitsvorgaben umzusetzen. «Es werden bestimmt auch ein paar Krümel für die breite Bevölkerung abfallen, etwa für die Wohnbauförderung», sagt Franzini. Die Entwicklung hin zu einer exklusiven Insel für Reiche wird das nicht bremsen. Das Zuger Parlament schaut in die Zukunft und hat schon mal für den Nachwuchs der Wohlhabenden vorgesorgt – es hat im Oktober hohe Subventionen für Privatschulen beschlossen.