Steuerwettlauf: Im ideologischen Rausch
Es war ein dreister Schritt: Kurz vor Weihnachten 2020, als alles auf die Pandemie starrte, beantragte eine Clique um SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi im Nationalrat die Abschaffung der Stempelsteuer, die Firmen bei der Ausgabe neuer Aktien zahlen. Ein alter Wunsch der mächtigen Wirtschaftsverbände Economiesuisse, Swissholdings und Swissbanking. FDP und GLP folgten – später kippte im Ständerat auch die Mitte-Partei. Erwarteter Steuerausfall: 250 Millionen Franken.
Eine Mehrheit der Stimmbürger:innen will sich das jedoch offenbar nicht gefallen lassen. Wie die jüngste Tamedia-Umfrage zur Abstimmung über die Stempelsteuer zeigt, würden derzeit 58 Prozent Nein stimmen.
Kein Wunder. Die unzähligen Steuersenkungen der letzten Jahre spalten die Gesellschaft. Während die normalen Löhne von steigenden Mieten weggefressen werden, schnellen die Toplöhne bei den Multis in die Höhe. Die Dividenden der zwanzig grössten Firmen sind seit 2000 um über 200 Prozent auf rund 40 Milliarden Franken gestiegen. Die Botschaft ist noch nicht überall angekommen: Bei den Vermögen ist die Schweiz – vor den USA – eines der ungleichsten Länder der Welt.
Die Schweiz verschärft die Ungleichheit auch global: Jeder fünfte Multi, der in den letzten Jahren den Sitz innerhalb von oder nach Europa verlegte, kam in die Schweiz. Damit werden anderen Ländern Abermilliarden an Steuergeldern entzogen, was dort zu steigenden Schulden führt. Gleichzeitig sind es ausgerechnet Aeschi und seine Leute, die die Arbeitskräfte, die diese Multis nachziehen, mit pseudoempörten Hetzkampagnen empfangen.
Die verursachte Ungleichheit torpediert auch den Kampf gegen die Klimakrise: Wenn der Fussabdruck der Reichsten immer weiter wachsen muss, damit andere aus der Armut finden, wird das Netto-null-Ziel niemals erreicht. Dass die Ungleichheit ein riesiges Problem ist, anerkennen ausserhalb der Schweiz inzwischen längst auch Leute wie Blackrock-Chef Larry Fink.
Obwohl weniger Ungleichheit also schon lange nicht mehr allein ein linkes Anliegen ist, stellen sich die Parteien hierzulande – mit Ausnahme von SP und Grünen – taub. Es scheint gar, als würden die Parteispitzen von FDP, Mitte oder GLP die heutigen globalen Wirtschaftsdebatten schlicht nicht mitbekommen.
Nun, da die OECD-Länder einen globalen Mindeststeuersatz beschlossen haben, um den ruinösen Steuerwettlauf zu begrenzen, wird hierzulande debattiert, wie dies sabotiert werden kann. SVP-Finanzminister Ueli Maurer sieht die Abschaffung dieser Stempelsteuer als ersten Schritt. Er kann sich auch vorstellen, danach die weiteren verbleibenden Stempelsteuern «in Angriff» zu nehmen. Zudem schlug er in der «NZZ am Sonntag» vor, die Steuern für Topverdienende weiter zu senken.
Der Giftschrank steht weit offen: Während der Zuger Finanzdirektor Heinz Tännler (SVP) erwägt, die Vermögenssteuern zu senken, schlägt sein Zürcher Kollege Ernst Stocker (SVP) vor, ausländischen Firmen billiges Bauland abzugeben; die Basler SP-Finanzdirektorin Tanja Soland will der Pharma die Forschung finanzieren, ihr Waadtländer Kollege Pascal Broulis (FDP) den Expats bei den Kosten für die Privatschulen ihrer Kinder helfen. Als wären sie in einem ideologischen Rausch.
Dies führt nicht nur noch tiefer in Ungleichheit, Schulden, Populismus und die Klimakrise. Die Politik wird irgendwann an ihre Grenze stossen: Die Schweiz nimmt nur deshalb ausreichend Steuergeld ein, weil sie genug Multis anlocken konnte, um damit die sinkenden Steuern zu kompensieren. Doch es gibt nicht unendlich viele Multis, die die Schweiz anlocken kann. Was dann? Maurer gab die Antwort kürzlich an der SVP-Delegiertenversammlung gleich selber: Die Schweiz werde künftig kaum um eine weitere Erhöhung der Mehrwertsteuer kommen, warf er den SVP-Delegierten zu – während er gleichzeitig für die Abschaffung der Stempelsteuer zugunsten der Multis warb. Fühlen sich SVP-Wähler:innen da nicht für dumm verkauft?
Bis jetzt konnte die SVP erst 43 Prozent ihrer Leute von einem Ja überzeugen – die GLP 30 Prozent. Falls es beim Nein bleibt, werden sich die Politiker:innen gut überlegen müssen, was das für die Zukunft heisst.