Politik in der Tiefsteuerzone: Unterwegs mit dem «neuen Jo Lang»
Luzian Franzini ist noch keine dreissig und bereits eine zentrale Figur der Zuger Linken. Ein kleiner Rundgang durch die Kantonshauptstadt – mit Einsichten in eine bürgerliche Politik, die im Grunde keine ist. Zumindest nicht für alle.
Der Park-Tower ragt wie ein gläsernes Ausrufezeichen in den diesigen Himmel. Es ist kalt in Zug. Altbundesrat Kaspar Villiger hat hier, unweit des Bahnhofs, im 18. Stockwerk seinen Wohnsitz. In den langen Briefkastenreihen sucht man seinen Namen allerdings vergeblich.
Durch diese Welt der Luxuswohnungen, Flachdächer und Firmensitze macht Luzian Franzini eine kleine Stadtführung. Es ist ein Flecken Erde, auf dem sich bürgerliche Politik primär als Dienstleisterin der Wirtschaft versteht. Die Machtverhältnisse in der neoliberalsten Zone der Schweiz sind eindeutig. 28 Prozent: Nur so viele Stimmberechtigte sagten Ende November im Tiefsteuerkanton Nein zu einer abermaligen Steuersenkung. Das entspricht ziemlich genau dem Wähler:innenanteil der «Alternative – die Grünen» (ALG), der wählerstärksten Kantonalpartei der Grünen Schweiz, zusammen mit der kleineren SP. Ein bescheidener politischer Hebel.
Der 27-jährige Luzian Franzini präsidiert die ALG, politisiert seit mehr als einer Legislatur im Kantonsparlament und steht dem kantonalen Gewerkschaftsbund vor. Mitte-Präsident und Nationalrat Gerhard Pfister, im Hintergrund immer noch eine einflussreiche Figur in der kantonalen Politik, soll ihn an einem Anlass der Zuger Mitte als den «neuen Jo Lang» bezeichnet haben. Der Historiker Lang, bis 2011 Nationalrat, und der Anwalt Hanspeter Uster, bis 2006 in der Kantonsregierung, haben die ALG gross gemacht, Gerechtigkeit international gedacht und auf Ökologie und Sozialpolitik gesetzt. Aufhalten konnten sie die Entwicklung nicht: Firmen und Reiche strömen ohne Unterlass ins kalte Herz der Schweiz, und Putins Handlanger finanzieren seit Jahrzehnten via Zug das autoritäre Regime und die Kriege des Kremlbosses.
Hinter den glatten Fassaden
Die Tiefsteuerpolitik nehme «absurde Züge» an, sagt Franzini, «der Rohstoffplatz mit seinem unethischen Wirtschaftskonzept beeinflusst das Leben bis hinab in die Vereine». Sich selbst bezeichnet Franzini als Antikapitalisten, der die Wirtschaft global denkt. «Ich bin aber nicht ideologisch, mein Politikzugang ist pragmatisch.» Die öffentlichen Aktionen und die Politik der ALG knüpften an die Arbeit von Lang und Uster an. Aufklärung sei wichtig, betont Franzini. Das spüre er auch in der Bevölkerung, in der sich angesichts des russischen Krieges gegen die Ukraine viele unbehaglich fühlten.
Entlang der Gubelstrasse reihen sich die Sitze von Briefkastenfirmen, Weltkonzernen wie Siemens oder Holcim, auch Kryptounternehmen führen hier Adressen. Was sich hinter den glatten Fassaden abspielt, weiss niemand so genau; und so genau will das hier auch niemand wissen, solange der Rubel rollt. Unweit von hier, an der Dammstrasse, befindet sich der exklusive Shed Club: Auf 1500 Quadratmetern können Interessierte in der hiesigen Geschäftswelt netzwerken, sofern sie mehrere Zehntausend Franken für eine Jahresmitgliedschaft übrig haben. Vor allem die Kryptoszene soll hier verkehren – mitten in diesem raumgreifenden Stadtteil, der bis hinauf zu den bevorzugten Lagen am Zugerberg wie ein Containerterminal für globale Firmensitze und reiche Menschen wirkt: eine miniaturisierte Zombiearchitektur, wie man sie aus den Steuerparadiesen Hongkong oder Arabische Emirate kennt, wo gewöhnliche Menschen nichts zu melden haben.
So weit ist Zug noch nicht. Noch ist die demokratische Fassade intakt. Doch ist es offensichtlich: Die Kantonsregierung versteht sich in erster Linie als Dienerin der Wirtschaftswelt; ihre Politik ist genau genommen gar keine Politik – zumindest keine für alle. Die Wirtschaftsverbände seien sehr einflussreich, sagt Franzini. Einmal im Jahr treffen sie sich mit der Kantonsregierung; zum offiziellen Teil wird auch Franzini als Präsident des Gewerkschaftsbunds eingeladen. «Vorgängig findet jeweils ein Essen statt, zu dem ich nicht eingeladen bin.» Beim offiziellen Austausch nehme die Regierung dann die Wünsche der Verbände entgegen und setze sie nach Möglichkeit um. Die Regierung verstehe sich offensichtlich als Teil der Wirtschaft, als kantonale Unternehmensführung. «Im Grunde», so Franzini, «haben die Verbände grossen Einfluss darauf, wer auf bürgerlicher Seite Politkarriere macht. Das ermöglicht dann die berühmten kurzen Wege Zugs.»
Auf Gemeindeebene hätten zudem oft wenige Familien grossen Einfluss. «Dorfvögte» heissen sie hier. Als Beispiel nennt Franzini Baar: Pirmin Andermatt, der Finanzchef der Gemeinde, ist zugleich Mitte-Kantonsrat und Präsident des Zuger Polizei- und des Hauseigentümerverbands. Solche Ämterkumulationen seien typisch für den Kanton.
Zurück zur Basis
Politik hat Franzini, der Sohn linker Lehrer:innen – einer Luzernerin und des Nachfahren eines norditalienischen Tunnelbauingenieurs – früh interessiert. Schon als Bub habe er vor dem Fernseher den Ausgang von Abstimmungen verfolgt. «Ich konnte auch alle Bundesräte aufzählen.» Als ihn eine Nachbarin zu einer Delegiertenversammlung der Jungen Grünen Schweiz in Zug mitnahm, war er fünfzehn – und schon wurde es ernst mit der Politik. Franzini machte fortan bei der Jungen ALG mit. Bereits während des Gymis engagierte er sich im Kampagnenteam für die «Zersiedelungsinitiative» und sammelte erste politische Erfahrung auf nationaler Ebene. 2016, mit knapp zwanzig, wurde er in einer Kampfwahl Kopräsident der Jungen Grünen Schweiz.
2020 wandte er sich der Politik im Kanton Zug zu. Hier fühlt er sich trotz allem immer noch zugehörig. Das war schon so, als er in Genf Internationale Beziehungen studierte und in Dakar ein Austauschsemester absolvierte. «Mit eigenen Augen zu sehen, wie extrem die globale Ungleichheit ist – das beeinflusst mich bis heute.»
Seine Brötchen verdient er heute als parlamentarischer Mitarbeiter der grünen Nationalrätin Florence Brenzikofer und als Kogeneralsekretär des Verbands der Schweizer Studierendenschaften. In Zug selbst engagiert er sich auch an der Basis, so etwa im Verein Pro Gartenstadt für den Erhalt einer Siedlung, die Landis & Gyr ab 1919 für seine Arbeiter:innen baute. Jetzt wollen dort eine Baugenossenschaft und die kantonale Gebäudeversicherung dreizehn Mehrfamilienhäuser abreissen, obschon die «Gartenstadt» unter Ortsbildschutz steht. Achtzig günstige Wohnungen würden dem Abriss zum Opfer fallen.
Franzini wohnt etwas weiter draussen, im Herti-Quartier, einer Blocksiedlung am Rand der Stadt, gegenüber der Eishalle, in der Glencore seine Weihnachtsfeiern abhält. Etwa 3000 Menschen wohnen in diesem für Zuger Verhältnisse günstigen Quartier. Hier teilt sich Franzini mit zwei Freunden eine Fünfeinhalbzimmerwohnung. Auf absehbare Zeit wolle er weiter in Zug Politik machen. Die Linke ist im Kanton zwar eine Minderheit. «Umso wichtiger ist es, dass es uns gibt. So können die Bürgerlichen nicht allzu schamlos agieren, weil wir ihnen genau auf die Finger schauen.»