Griechenland: Verbrannt auf dem Weg nach Europa

Nr. 48 –

Im August ist den Bränden im nordostgriechischen Evrosgebiet eine Gruppe von achtzehn Migranten zum Opfer gefallen. Gleichzeitig wurden Geflüchtete Opfer rassistischer Hetzjagden, weil rechte Politiker:innen und die Medien sie der Brandstiftung beschuldigten. Eine Reise zu den Verheerungen des europäischen Grenzregimes.

Die Stelle, an der am 21. August achtzehn Menschen ihr Leben verloren haben, liegt nur wenige Kilometer ausserhalb des Dorfes Avantas. Eine kleine Ortschaft mit einem typisch griechischen Hauptplatz, in dessen Kafenion am Nachmittag Männer sitzen und mit Gebetsketten spielen. Das Feuer kam Avantas bedrohlich nah; das letzte Haus an der Strasse, die aus dem Dorf hinaus in die umliegenden Hügel führt, ist beschädigt, Ziegel fehlen, ein Fenster ist geborsten. Vom Wald, der das Dorf umgibt, steht nur noch das Skelett.

Auch zwei Monate nach den Feuern liegt Brandgeruch in der Luft. Um zur Todesstätte zu gelangen, muss man einem Waldweg folgen. Demselben Weg, den an jenem Augusttag die achtzehn Migranten gegangen sind – im Versuch, dem Feuer zu entkommen.

Ihr Tod war nur eine Meldung in der Kurzspalte, eine Randnotiz der grossen Brandkatastrophe in der nordostgriechischen Evrosregion. Doch inzwischen ist es der «New York Times» gelungen zu rekonstruieren, woher die Menschen stammten und was sich in den Tagen vor ihrem Tod abspielte. Gemäss der Zeitung stammten alle Opfer aus dem bürgerkriegsgebeutelten Syrien, mindestens fünf Minderjährige sind unter den Toten. Junge Männer, Jugendliche, die eine Zukunft suchten. Eines der Opfer heisst Basel al-Hamad, ein 28-jähriger Mann aus Aleppo, der dort Ingenieurwesen studiert hatte und seinem Bruder nach Norwegen folgen wollte. Hamad kommunizierte während seiner Flucht regelmässig mit ihm. Die Nachrichten, Bilder und Videos, die die «New York Times» ausgewertet hat, zeigen, dass seine zwölfköpfige Gruppe den Evrosfluss bereits am 11. August ein erstes Mal überquerte. Dass sie jedoch drei Tage später von der griechischen Polizei aufgegriffen, eingesperrt und in die Türkei zurückgeschafft wurden.

Nachrichten an Basel al-Hamads Bruder zeigen laut der «New York Times» weiter: Die Gruppe, die es ein zweites Mal schaffte, nach Griechenland zu gelangen, und sich dort mit weiteren sechs jungen Männern zusammenschloss, tat danach alles, um den Behörden nicht erneut ins Netz zu gehen, selbst im Angesicht der Feuer, die in der Region kurz darauf ausbrachen. Um nicht aufzufallen, mieden die Syrer jede Ortschaft, sie schlugen sich stattdessen durch das bewaldete Hinterland durch.

Einen Tag vor seinem Tod informiert Hamad seinen Bruder per Sprachnachricht: «Ein Fahrer hätte uns ausserhalb von Avantas abholen sollen.» Doch der Fahrer taucht nicht auf, vielleicht wegen der Feuer, vielleicht hat ihn, wie der Fluchthelfer der Gruppe gegenüber der Zeitung behauptet, die Polizei verhaftet. Kurz vor der Katastrophe erhalten Verwandte Videos und Sprachnachrichten: «Alle Wälder links von uns brennen, und die Feuer sind hinter uns.»

Auf dem Hügel, wo die Geflüchteten von den Feuern umzingelt wurden, stehen die russgeschwärzten Reste einer abgebrannten Schäferhütte. Drei der Syrer starben in der Hütte, in deren Mauern sie wohl Schutz gesucht hatten. Weitere neun Opfer wurden hangabwärts gefunden, dicht aneinandergedrängt.

Der Fluss als Grenze

Karte der Grenze zwischen Griechenland und Türkei beim Evros-Fluss und dem Evrosdelta
Karte: WOZ

Kein aussergewöhnlicher Tag

Pavlos Pavlidis erinnert sich genau an den Zeitpunkt des Anrufs. «Er kam am Dienstag, dem 22. August, um 8.20 Uhr», sagt der Forensiker in seinem Büro im Kellergeschoss des Universitätsspitals von Alexandroupoli. «Ein Feuerwehrkommandant rief an. Er sagte, seine Brigade habe zwei Leichen gefunden.» Am Nachmittag fuhr Pavlidis zum Unglücksort. «Wir fanden das erste Opfer am Fuss des Hügels, sind dann hinaufgestiegen und haben immer mehr Leichen entdeckt.»

Pavlidis, zerfurchtes Gesicht, schütteres Haar, müde Augen, raucht an seinem Pult eine Zigarette. Auf einem Bildschirm hat er die Bilder der schwarz verkohlten Körper aufgeschaltet. Feuer springe, sagt er. Die Menschen, die auf dem Hügel ausserhalb von Avantas starben, seien nicht verbrannt, sondern verglüht, weil eine thermische Hitzewelle über sie hinweggefegt sei. «Deshalb sind ihre Körper nicht zu Asche zerfallen.» Für Pavlos Pavlidis war der 22. August 2023 kein aussergewöhnlicher Tag. Noch nie seien es so viele Opfer auf einmal gewesen, sagt er zwar, und die Feuer seien eine neue Komponente. Doch Pavlidis, der vor rund zwanzig Jahren die einzige rechtsmedizinische Institution des Evrosgebiets aufgebaut hat, ist schon lange zum Chronisten der gesichtslosen Toten geworden. Er schätzt, dass seit dem Jahr 2000 in der Grenzregion zwischen der Türkei und Griechenland rund 2000 geflüchtete Menschen gestorben seien. «Etwa 700 Tote wurden auf griechischer Seite gefunden. Ich gehe davon aus, dass es auf türkischer Seite noch einmal so viele sind – und dass ebenso viele verschwunden blieben.» Die Menschen sterben beim Versuch, die Grenze zu überwinden an Unterkühlung, Lungenentzündungen, bei Unfällen – die meisten ertrinken.

Wie die Brandopfer wiesen auch die Ertrunkenen oft kein Identifikationsmerkmal mehr auf, sagt Pavlidis weiter. «Das ist einzigartig hier: Die Toten sind nur durch ihre DNA identifizierbar.»

Die nordöstliche Grenze zwischen der Türkei und Griechenland, die zum grössten Teil der Evros bildet, ist 150 Kilometer lang. Die Autobahn, die dem Fluss entlang Richtung Norden führt, zieht ihre Kurven durch ein weites Nichts: graue, vertrocknete Felder, leere Industriehallen. Mit Baumwolle beladene Lastwagen donnern über die Strasse. Der Fluss selbst ist hochgerüstetes militärisches Sperrgebiet. Und laut Menschenrechtsorganisationen wie dem Border Violence Monitoring Network und zahlreichen Medienrecherchen die gewaltreichste Grenze Europas. Hier, wo die rechtskonservative Mitsotakis-Regierung derzeit den heute knapp 40 Kilometer langen Hightechgrenzwall mit Drohnen, Wärmebildkameras und Schallkanonen auf die doppelte Länge ausbaut, werden Menschen nachts ins kalte Wasser geworfen, von Männern mit Sturmhauben gewaltsam zurück auf den Evros gedrängt, auf kargen Inseln im Fluss ausgesetzt. Seit 2019 hat das Border Violence Monitoring Network 163 Berichte von illegalen Pushbacks gesammelt, die über 10 000 Menschen betreffen. Zeugen berichten von in den Mund gestopften Zigaretten, von fensterlosen Lieferwagen, in die sie gepfercht worden seien, von leeren Lagerhallen, die von der griechischen Grenzwache zu Gefängnissen umfunktioniert worden seien. Die griechischen Behörden streiten all diese Menschenrechtsverletzungen ab, verweigerten jedoch der humanitären Organisation Ärzte ohne Grenzen Anfang dieses Jahres eine Mission im Sperrgebiet.

Auch die auf Flüchtlingsabwehr gepolte EU hat kein Interesse daran, die griechische Grenzwache zu kritisieren. Im Februar 2020, als der türkische Autokrat Recep Tayyip Erdoğan den längst gescheiterten EU-Türkei-Deal für seine politischen Interessen instrumentalisierte und Tausende Geflüchtete an die Evrosgrenze fahren liess, um die Union zu erpressen, dankte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Griechenland dafür, «in diesen Zeiten der europäische Schild» zu sein.

Gerichtsmediziner Pavlidis zieht an seiner Zigarette und sagt: «Die Politik? Ist nicht mein Job. Ich identifiziere die Toten, ich beerdige sie, ich organisiere die Überführung der Leichen.» Es gehe ihm um Respekt vor den Toten. «Um Humanität.»

Vor gut zwei Monaten sassen Basel al-Hamads Bruder und einige seiner Cousins in Pavlidis’ Büro, um DNA abzugeben. Mittlerweile hat Pavlidis zwei weitere Opfer der Brandkatastrophe identifiziert, beides Kinder. Bei einem weiteren Opfer wartet er auf das Resultat aus Athen.

Der Tod der Migranten im Feuer ist nur ein Teil der Geschichte, die sich diesen Sommer im Evrosgebiet ereignet hat. Eine Geschichte, in der grosse Krisen dieser Zeit aufeinandergeprallt sind: die Klimakatastrophe, die Gewalt an Europas Aussengrenzen, die ökonomischen Verwerfungen und der politische Rechtsrutsch.

Am 22. August näherte sich das grösste je in Europa registrierte Feuer Alexandroupoli, der Hauptstadt der Region. Vier, fünf Tage lang bedrohten die Brände die Quartiere der Stadt. Angefeuert von rechten Politiker:innen und Medien veranstalteten Bürgerwehren Hetzjagden gegen Geflüchtete. Einer der Aufwiegler: Paris Papadakis, Abgeordneter der rechtspopulistischen Partei Griechische Lösung, die in der Region bei den letzten nationalen Wahlen doppelt so viele Stimmen holte wie im Landesdurchschnitt. Am 22. August behauptete Papadakis auf seiner Facebook-Seite: «In diesem Moment legen hinter dem Lidl in Nea Chili zwanzig Migranten Feuer.» Genauer spricht Papadakis von «lathrometanastes» – ein abwertendes Wort für Migrant:innen, das mit «Geschmuggelte» übersetzt werden kann, als wären die über den Evros kommenden Menschen Waren. Papadakis schrieb weiter: «Geht raus, wenn Krieg ist, müsst ihr handeln.» Keine zwei Stunden später strahlt das Lokalfernsehen ein Video aus, auf dem Männer hinter besagtem Lidl aufeinandergestapelte Gummireifen präsentieren, gefüllt mit Holzscheiten, einem Schaumstoffball, Stroh. «Schau, was sie getan haben», ruft einer der Männer. «Mitten in der Stadt!» Es folgt ein Fernsehinterview mit Papadakis. Er behauptet, Migranten hätten an zehn verschiedenen Orten in der Stadt Feuer gelegt. Wenig später kursiert ein weiteres Video auf den sozialen Netzwerken: Ein Mann in Militäruniform steht auf einem Pick-up und gibt Instruktionen. Er warnt davor, Messer oder andere Waffen zu benutzen oder Migranten gefangen zu nehmen: «Sie lassen uns nicht. Obwohl die uns niederbrennen, obwohl wir einen hybriden Krieg haben, lassen sie uns nichts anderes tun.»

Sakis Kamilaris vom Jäger- und Fischerklub Anisio Delta steht bei einem Geländefahrzeug
Er glaubt, Mi­grant:in­nen hätten die Feuer gelegt: Sakis Kamilaris vom Jäger- und Fischerklub Anisio Delta. Foto: Sarah Schmalz

Sakis Kamilaris trägt eine Trainerjacke, die mit Enten und Schilflandschaften bedruckt ist. Er steuert sein altes Fischerboot über das Wasser des breiten Evrosdeltas. Irgendwann stoppt er sein Boot an einer etwas schmaleren Stelle, der Ruf des Muezzins hallt über das Schilf. Das sei einer der Orte, wo die «lathrometanastes» oft mit ihren Schlauchbooten den Fluss überquerten, sagt Kamilaris. Wie Papadakis, der am Telefon ausrichten liess, er sei leider gerade in den Ferien, gehört er dem Klub Anisio Delta an, einer Vereinigung von Fischern und Jägern, die Hütten im Flussdelta besitzen – und deshalb Zugang zum Sperrgebiet haben. Seine Holzhütte, die er als einer der Letzten im Klub das ganze Jahr über bewohnt, steht auf morschen Stelzen im Fluss. Neben dem Steg liegt ein gesunkenes Schlauchboot im Wasser. Kamilaris sagt, er erinnere sich nicht mehr daran, was er gefühlt habe, als er als Jugendlicher zum ersten Mal eine Wasserleiche gesehen habe. «Ich bin schon so lange daran gewöhnt, dass immer wieder eine an die Wasseroberfläche kommt.»

Im Innern ist es schmutzig. An der Wand hängen Fotos des 43-Jährigen in Tarnkleidern, auf einem posiert Kamilaris Arm in Arm mit dem ehemaligen griechischen Verteidigungsminister, auf einem anderen mit erlegten Enten. Neben den Fotos im gleichen Rahmen: eine orthodoxe Ikone.

Das Evrosgebiet gehört zu den ärmsten und gleichzeitig konservativsten Gegenden Griechenlands. Der Tourismus spielt hier kaum eine Rolle, die Wirtschaft ist schwach, schon immer waren in der ansonsten von Landwirtschaft geprägten Region das Militär und die Polizei wichtige Arbeitgeber – und gesellschaftlich tief verankert. Auch weil alle Männer der Region, die Militärdienst geleistet haben, Teil der Nationalgarde sind, die Griechenland im Fall eines türkischen Überfalls an vorderster Front verteidigen soll und die regelmässig trainiert wird.

Die Hüttenbesitzer des Evrosdeltas jagen und fischen nicht nur, sie patrouillieren auch als zivile Grenzschützer. «Alles in Kooperation mit der Polizei», sagt Kamilaris, nachdem er einen Kaffee aufgetischt hat. «Ich patrouilliere nie ohne Absprache, nie ohne Anweisungen.» Wenn er ein Boot finde, melde er das den Beamten. «Die entscheiden alles.» Pushbacks? Davon habe er nur gehört, sagt der Hüttenbesitzer. «Offiziell wird Ihnen die niemand bestätigen.»

Dass die rechte Erzählung, Migranten hätten die Feuer gelegt, bei der lokalen Bevölkerung auf so viel Resonanz stiess, hat nicht zuletzt mit den starken antitürkischen Ressentiments zu tun – und mit den damit verbundenen Verschwörungstheorien. Kamilaris glaubt, Erdoğan habe falsche Flüchtlinge nach Griechenland geschickt, um die Wälder abzubrennen. «Die Türken wollen unsere Wälder zerstören, weil sich so unsere Armee bei einem türkischen Angriff nicht verstecken könnte», sagt er. «Wenn der Wald weg ist, sind wir für den Feind sichtbar.»

Geflüchtete Menschen als feindliche Invasoren: Solche Fantasien wurden auch von den Bildern vom Februar 2020 genährt, als der türkische Präsident mit seinem Manöver die fehlende Aufnahmebereitschaft der EU entlarvte. Schon damals schlossen sich auch ausserhalb des Deltas, in Dörfern und Städten entlang des Evros, Nationalgardisten zu Bürgerwehren zusammen, die mit Pick-ups patrouillierten und Migrant:innen am Grenzübergang hinderten oder in die Türkei zurückdrängten. Diesmal, sagt Kamilaris, sei es etwas eskaliert. Aber das sei nicht die Schuld des Klubs Anisio Delta. Papadakis habe ja nie dazu aufgerufen, Leute zu jagen und zu foltern. «Sondern nur dazu, die Grenzen zu schützen.» Kamilaris spielt auf ein Video an, das während der Brände Schlagzeilen machte: Verängstigte Migranten, die aus dem Laderaum eines Lieferwagens in die Kamera blicken. Dazu die Stimme eines Mannes, der stolz verkündet, er habe zwanzig «Stück» gefangen. Für Stunden hielt der Mann dreizehn Menschen fest, sie berichteten nach ihrer Befreiung durch die Polizei von Misshandlungen. Der Haupttäter, ein Bauunternehmer aus Alexandroupoli, sowie zwei Gehilfen wurden verhaftet und warten derzeit in Hausarrest auf ihren Prozess.

Laut der Hilfsorganisation Solidarity Now, die zur Zeit der Feuer in der Evrosregion im Einsatz war, herrschte während der Patrouillen eine pogromartige Stimmung, Bataillone der Nationalgarde hätten sich als Sheriffs aufgespielt, und auch weniger organisierte Bürger:innen hätten aufgepeitscht Jagd auf Migrant:innen gemacht, in der Hoffnung, sie in flagranti beim Feuerlegen zu erwischen – wofür es bis heute keinerlei Indizien gibt.*

«Alles ein grosses Game»

Solidarity Now kritisiert, dass rechte Politiker:innen mit der Hetze von eigenen Versäumnissen ablenkten – und dass daran besonders die regierende Nea Dimokratia ein Interesse habe, die nicht nur beim Klimaschutz versage, sondern auch beim Kampf gegen die Feuer. Wie andere Mittelmeerländer gehört auch Griechenland gemäss der Uno zu den Ländern, die besonders stark vom Klimawandel betroffen sind. Er sorgt für immer längere Hitze- und Dürreperioden, die die Brandgefahr steigen lassen.

Dazu kommt die schlechte Infrastruktur: Immer wieder brechen in Griechenland Feuer aus, weil Stromleitungen schlecht gewartet wurden und reissen. Die Regierung, die während der Evroskatastrophe «die Gefahren der irregulären Migration» beschwor, investiert weit mehr in ihre Sicherheitskräfte als in die Feuerwehr.

Friedhof für nicht identifizierte Geflüchtete in der Nähe des Dorfes Sidiro
Viele werden namenlos begraben: Friedhof für Geflüchtete bei Sidiro nördlich von Dadia. Foto: Sarah Schmalz

Bei den Feuern im Evrosgebiet, wo sich zwei Brände zu einem Grossfeuer vereinigten, gilt als gesichert, dass eines davon von einem Blitzeinschlag verursacht wurde. Die Ursache des zweiten, das im Dadia-Nationalpark, einem geschützten Waldgebiet, ausbrach, ist noch nicht ermittelt. Die Migrant:innen sind auch deshalb leichte Opfer für Anschuldigungen, weil sie gerade wegen ihrer prekären Lage auf viele Anwohner:innen bedrohlich wirken. Auf der Terrasse des Cafés auf dem Hauptplatz des Dorfes Dadia zeigt die Besitzerin erst Videos der Flammen, die den Ort bedrohten, dann ältere Aufnahmen des Dorfplatzes, auf dem Flüchtlingsfamilien versammelt sind. Früher habe sie noch Mitleid gehabt mit den Leuten, sagt sie. Aber jetzt, wo all diese heruntergekommenen Männer kämen, mit Tattoos und Messern, «jetzt nicht mehr». In der lokalen Bevölkerung für Aufruhr sorgten vor den Feuern mehrere Autounfälle, die vor der Polizei fliehende Geflüchtete verursacht hatten und die auch griechische Opfer forderten. Die Cafébesitzerin sagt zudem, die Migrant:innen würden «plündern», und sie hätten sechzehn Schäferhütten zerstört, teilweise niedergebrannt. Dass die Menschen insbesondere im Winter in ihren Verstecken manchmal kleine Feuer machen, um sich oder etwas zum Essen aufzuwärmen, hat die Brandstiftertheorie genährt.

Das Café am Hauptplatz von Dadia hat an diesem Morgen nur zwei Gäste. Der ältere, ein freundlich wirkender Mann mit weissem Hellenenschnauz, sagt, Europa müsse endlich aufwachen. Die Türkei schicke Invasoren, um erst Griechenland und dann ganz Europa zu islamisieren. Mit den Feuern sei es ja schon 2020 losgegangen, «das ist alles ein grosses Game».

Der andere Gast, ein Feuerwehrmann, schildert, wie er bei den Löscharbeiten zweimal von den Feuern umzingelt worden sei. Natürlich hätten Migrant:innen die Feuer verursacht, sagt der Mann. «Nicht absichtlich wahrscheinlich, aber wer soll es denn sonst gewesen sein? Nur Jäger gehen sonst in diese Wälder. Und als das Feuer ausbrach, kamen fünfzig Migranten aus dem Wald. Ich habe sie der Polizei übergeben.»

Die Grenzpolizei schweigt

Wie beängstigend die Feuer gewesen seien, schildert auch Melina Ntislian, eine ehemalige Sportjournalistin und Managerin eines Volleyballteams. «Wir hatten grosse Angst, dass die Stadt niederbrennt.» Die 39-Jährige spricht bei einem Treffen in Alexandroupoli ohne Umschweife über ihre Teilnahme an den Patrouillen, zusammen mit Spielerinnen aus dem Volleyballteam, mit Nachbarn, Freunden, auch Jugendliche seien dabei gewesen. «Die Polizei hat uns nicht aufgehalten, im Gegenteil. Sie ermahnten uns zwar, dass wir keine Selbstjustiz ausüben sollten, aber sie waren immer in der Nähe, gaben uns Tipps, wo wir suchen sollten, und nahmen unsere Berichte entgegen.» Auf die Anfrage, ob diese Schilderung stimmt, reagiert die griechische Grenzpolizei ebenso wenig wie auf Fragen zu Pushbacks und Gewalt.

Ntislian ist ein Beispiel dafür, wie weit fremdenfeindliche Ressentiments und Verschwörungstheorien in die Mitte der Gesellschaft eingesickert sind. Früher habe sie Geflüchteten noch Geld gespendet, sagt die Frau, deren Grossvater 1922 selbst als Pontosgrieche aus der Türkei nach Griechenland kam. Doch das Leben sei auch in Griechenland prekär. «Die Krise, die Feuer, die Flut – immer, wenn du denkst, du kommst auf einen grünen Zweig, kommt wieder etwas Neues. Der Staat kann noch nicht einmal für seine Bürger schauen.» Und mittlerweile habe sie Fragen: Damals hätten Geflüchtete Pässe gehabt, Abschlusszeugnisse. Heute scheine ihr vieles nicht zusammenzupassen. Auch Ntsilian glaubt, dass es «irgendeinen Befehl von aussen» geben müsse. «Von der Nato, Russland, der Türkei, den USA, was weiss ich. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass diese Leute keine andere Möglichkeit haben, als diesen gefährlichen, illegalen Weg zu nehmen. Deshalb denke ich, sie werden gezwungen.»

Die Griechin behauptet, sie habe während der Patrouillen Migrant:innen auf einem Friedhof Feuer machen sehen. «Doch sie sind uns entwischt.»

Seit dem Sommer überqueren weit weniger Menschen als gewöhnlich den Evros, der Wald bietet ihnen kein Versteck mehr. Die griechischen Behörden haben bereits im August sowohl eine Untersuchung der Brandursachen als auch der rassistischen Hetzjagden angekündigt – bislang ohne Ergebnis.

In seinem Büro bewahrt der Forensiker Pavlos Pavlidis Kisten mit persönlichen Gegenständen von Verstorbenen auf: Schmuck, Handyladekabel, Visitenkarten, Banknoten, Tabletten, Pflaster. Manchmal, wenn ein Angehöriger nach Jahren eines Verschwindens Gegenstände zu erkennen glaubt, lässt der Gerichtsmediziner das Grab, das dieselbe Nummer wie einer der Plastikbeutel mit den Besitztümern hat, wieder ausheben. «Es ist sehr wichtig, dass alles korrekt gemacht wird. Dass wir die richtigen Matches haben», sagt er. «Irgendwo in Afghanistan vermisst eine Mutter ihren Sohn. Was wir ihr zumindest geben können, ist Gewissheit.»

Mitarbeit: Antonis Repanas

* Korrigenda vom 30. November 2023: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion wurde fälschlicherweise der Begriff «Beweise» verwendet.

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