Kultur in der Peripherie: Am Morgen aufstehen und krampfen für die Kunst

Nr. 48 –

In Lichtensteig im Toggenburg betreiben junge Kulturschaffende seit bald fünf Jahren ein erfolgreiches Kulturzentrum. Die örtliche SVP hat dagegen eine Petition eingereicht, Stichwort: «Steuergeldvernichtung». Dabei geht es hier um alles andere als um Geld.

Hanes Sturzenegger und Maura Kressig
Hanes Sturzenegger und Maura Kressig gehören zum Team der Rathaus-Betreiber:innen. Bei einem Treffen mit SVP-Vertretern war man sich einig, dass alle viel Herzblut in die Gemeinde steckten, nur eben mit verschiedenen Vorstellungen, was gut sei für den Ort.   Foto: Florian Bachmann

Man könnte sich das alles als ein umsichtig gezogenes und gehegtes Pflänzchen vorstellen, das einige nun mit der Dampfwalze platt fahren wollen. Aber eigentlich geht es hier, im Städtchen Lichtensteig im Toggenburg, um ganz grundsätzliche Fragen: Was macht einen Ort aus, wer darf Platz haben und wer nicht, wer gestaltet und wer macht kaputt, und warum? Viereinhalb Jahre gibt es das Rathaus für Kultur hier nun schon, kurz vor der Erneuerung des Gebrauchsleihvertrags hat die örtliche SVP beim Gemeinderat eine Petition mit 273 Unterschriften eingereicht, die ein Ende des Kulturzentrums fordert.

«Über die gesamte Zeit, wo die Betreiber vom Rathaus für Kultur nun bei uns in Lichtensteig sind, haben sie es nicht geschafft, die Lichtensteiger Bevölkerung zu begeistern», heisst es da. Das Rathaus für Kultur antwortete in einer Stellungnahme: «Wir fühlen uns in Lichtensteig zu Hause und willkommen.» Auf der Website des Wakkerpreises, den die Gemeinde 2023 erhalten hat, wird das Rathaus als «Kultur-Knotenpunkt, der belebt und inspiriert» bezeichnet. Was ist da los im Toggenburg?

lila Rauch über dem neu eröffneten Rathauses für Kultur in Lichtensteig
Lichtensteig, 2019: Rauchzeichen künden von der Eröffnung des Rathauses für Kultur. Foto: Hanes Sturzenegger

Fährt man mit dem Zug von Wil aus ins Tal, gelangt man in rund zwanzig Minuten nach Lichtensteig. Ein spezieller Ort in dieser ländlichen Gegend, schon vom Bahnhof her sieht man die Altstadtzeile hochragen, über der Thur an den Hang gebaut. «Felsenstädtchen» nennt man ihn auch oder «Brückenstädtchen». Ganz links am Ortsrand die evangelische Kirche, ganz rechts die katholische, ein brutalistischer Bau aus den 1960er Jahren. Am Bahnhof ist nichts weiter los, der Wartsaal ist geschlossen, in den Fenstern hängen Inserate, Plakate werben für Kulturanlässe. Das Chössi-Theater einige Schritte weiter hat ebenfalls geschlossen an diesem Tag. Ab 1985 haben sich seine Betreiber:innen erst im Obergeschoss, dann in allen Räumen der 1870 eröffneten «Bahnhalle» eingenistet. Sie war, bevor sie Kleinkunst, Kabarett und Gastronomie beherbergte, auch einmal ein Fünfsternehotel.

Ein Grund fürs Zurückkommen

An lichteren Tagen mag Lichtensteig schmuck wie eine Postkartenidylle am Berg kleben. Jetzt schüttet es apokalyptisch und pausenlos wie in der ganzen Schweiz an diesem Tag, die Strassen sind leer, nur ein Einzelner kommt den Hang heruntergerannt, an einen vom Wind verbogenen Regenschirm geklammert. Oben in der Hauptgasse der kompakten Altstadt bieten Arkaden Schutz vor dem Wetter. Lichtensteig erhielt im Jahr 1400 das Stadtrecht und war lange das wirtschaftliche Zentrum der Region. Obwohl es nur gut 2000 Einwohner:in nen hat, fühlt man sich weniger in einem Dorf als, wie man hier sagt, «im Städtli». «Semi-urban», nennt es Stadtpräsident Mathias Müller (Die Mitte). «Offene, kreative Geister» hätten sich hier schon immer wohlgefühlt, auf dieser tendenziell linken Insel inmitten des konservativen Tals.

Nur wenige Hundert Meter die Hauptgasse hinauf liegt rechter Hand mit Nummer 12 das Rathaus. Bis 2019 war hier die Stadtverwaltung untergebracht, bevor sie wegen der fehlenden Barrierefreiheit ins ehemalige UBS-Gebäude gleich gegenüber zog. Zufällig zur selben Zeit waren Maura Kressig, Hanes Sturzenegger, Sirkka Ammann und Marcel Hörler auf der Suche nach etwas Fixem; zuvor waren sie mit ihren Ausstellungsprojekten sieben Jahre lang mal hier, mal dort zu Gast. «Wir waren in Ebnat-Kappel, in Dietfurt, in Bütschwil, zweimal in Lichtensteig. Als wir beschlossen, ein Residenzformat zu entwickeln, war das wie ein Ankommen», sagt Hanes Sturzenegger. «Es ist wichtig, zwischen einzelnen Projekten viel Zeit zu haben. Du musst es gut haben mit dem Werkdienst, mit dem Bierladen, mit dem Gewerbe und den anderen Kulturvereinen im Ort, Leute an Dorf‌festen treffen, reden, mal einen Gefallen tun. Das geht nur, wenn du wirklich da bist.»

So klopfte die Gruppe beim Lichtensteiger Stadtpräsidenten an, ob er von einem leer stehenden Raum wisse. Mathias Müller bot das Rathaus an. «Das war viel grösser als alles, was wir uns vorgestellt hatten», sagt Maura Kressig. Sie entschieden sich für die Gründung von zwei Vereinen: dem Residenzprojekt Dogo, das auswärtigen Kunstschaffenden eine Bleibe bietet, und dem Rathaus für Kultur als offenes Kulturzentrum.

Man muss so etwas auch wollen: zurück aufs Land, nachdem man in Zürich oder Basel gelebt hat; ins Toggenburg, wo es nach der Matura bald nicht mehr viel gab, was einen halten konnte. «Wenn du Kunst machen willst, gibts in der Ostschweiz kaum etwas. Die Hochschulen zum Beispiel sind alle in der West- und der Zentralschweiz», meint Sturzenegger. «Also gehst du, und alle anderen gehen auch, und dann gibt es keinen Grund mehr, zurückzukommen.» Aber es gibt hier etwas, das in Städten wie Zürich knapp ist: viel Platz, und zwar für wenig Geld. Ausserdem, meint Maura Kressig, sei es leicht zu sagen, im Toggenburg sei nichts los: «Wir wollten einen Grund fürs Zurückkommen aufbauen.» Und es hat funktioniert: Langsam kommen Leute, auch Freund:innen von ihnen. Das sei noch keine Völkerwanderung, sagt Kressig, aber immerhin.

Sylvain Gelewski im Atelier der Residenz Dogo
Sylvain Gelewski arbeitet an einer «Strandfigur». Der Genfer Künstler war im Sommer 2021 Gast im Atelier der Residenz Dogo. Foto: Hanes Sturzenegger

Maura Kressig, Koleiterin des Rathauses für Kultur und der Dogo Residenz, und Hanes Sturzenegger, Koleiter der Residenz, sitzen in der alten Turnhalle. Sie wirken jung, aber sehr erwachsen, kompetent. Und ein bisschen müde von der Vernissageparty am Wochenende, als hier die «Dogo Totale» eröffnet wurde: Im November wurden in der Turnhalle Einblicke in die im vergangenen Jahr entstandenen Arbeiten gezeigt, hier beziehen die Residenzgäste auch jeweils ihr Atelier. Fünf Kollektive aus Frankreich, Pakistan und der Schweiz haben in den letzten Monaten in Lichtensteig gelebt und gearbeitet. «Es ist uns wichtig, dass die Leute wirklich hierhin wollen – und nicht einfach weg von zu Hause. Wir merken, dass die Bewerbungen über die Jahre in Bezug auf den Ort immer spezifischer werden», sagt Kressig.

Das Kollektiv Hum-sar («Liebhaber» oder «Kamerad» auf Farsi) aus Pakistan etwa hat sich intensiv mit dem Ort auseinandergesetzt. Fatima Butt und Fatima Faisal kamen im April aus Lahore, der mit gut elf Millionen Einwohner:innen zweitgrössten pakistanischen Metropole, für vier Monate nach Lichtensteig. Erst seit kurzem arbeiten die beiden als Künstlerinnenkollektiv zusammen, zu Hause blieb dafür neben zeitaufwendigen Brotjobs kaum Zeit. In ihrer Arbeit beschäftigen sich Butt und Faisal damit, was es bedeutet, daheim zu sein: Wie ist das, wenn man sich an einem komplett fremden Ort auf einmal ausleben kann, wie man es vorher nicht konnte? «Beide lieben die pakistanische Kultur, vor allem die Esskultur, und ihre Heimatstadt», sagt Kressig. «Trotzdem fühlen sie sich dort oft nicht zugehörig.» In Lichtensteig hätten sie sich schnell sehr wohlgefühlt. «Sie haben alles aufgesogen, kannten bald die halbe Gemeinde. Und sie sind viel herumgereist, waren in Zürich am Frauenstreik und an der Pride», sagt Sturzenegger.

Am liebsten wären sie geblieben. Ihre Ausstellung an der «Dogo Totale» ist abgetrennt von den andern und erinnert ein wenig an ein Wohnzimmer; an den Fenstern sind Toggenburger Stickvorhänge festgemacht, die in der Gegend überall zu sehen sind. Der Raum ist voll mit Collagen, Malereien. In der Mitte steht ein Sofa, auf dem Röhrenfernseher davor läuft eine Fotostrecke: Leute aus dem Städtli, die Faisal und Butt in ihrem Schlafzimmer im Rathaus abgelichtet haben. «Schau, das ist Roland Walther, ein Gemeinderat», sagt Kressig über einen fröhlich wirkenden bärtigen Herrn im Guinness-Shirt. «Das bin ich, im Sari; das ist Silke, die war auch einmal in der Residenz und ist dann von Deutschland hierher ausgewandert. Das ist Goran, er führt die Pizzeria.»

Ein neues Selbstbewusstsein

Die Wege sind kurz im Städtli. Um das Okay für ein Projekt zu kriegen, reicht manchmal ein Telefonat. So gesehen ist es eigentlich merkwürdig, dass vor der SVP-Petition gegen die angebliche «Steuergeldvernichtung» diese Art von Kritik kaum je an das Rathaus herangetragen wurde. Sie sei für sie alle überraschend gekommen, meint Kressig: «Wir hatten ein gutes Jahr, hohe Besucher:innenzahlen, viele Anlässe, dann kam der Wakkerpreis – und plötzlich taucht diese Petition auf.»

Wenn in einer Abstimmung rauskomme, dass die Mehrheit das Rathaus für Kultur nicht wolle, sagt Kressig, dann wäre das natürlich schade. Das sei aber aufgrund der Erfahrung, die sie bei ihren Anlässen und mit all ihren Gästen machten, nicht wirklich zu erwarten. Auch Mathias Müller steht hinter dem Rathaus, wie er immer wieder klargemacht hat. 2012 wurde er erst dreissigjährig zum Stadtpräsidenten gewählt. «Für den Wakkerpreis hat das Rathaus eine grosse Rolle gespielt, mittlerweile wird es auch international als Paradebeispiel für eine gelungene Gemeindeentwicklung wahrgenommen», sagt er.

2013 stiess der Stadtpräsident die Gesamtstrategie «Mini.Stadt» als partizipativen Prozess an: Die Bevölkerung konnte Ideen einbringen, der Gemeinderat versuchte, sie nach Kräften zu unterstützen. Das hat einiges bewirkt in dieser strukturschwachen Gegend, in der der langsame Rückgang von Industrie und Detailhandel seit den 1970er Jahren auch zu einer stetigen Bevölkerungsabnahme führte. Das einst so stolze Marktzentrum fiel hinter die Nachbargemeinde Wattwil zurück, wo sich der Detailhandel und öffentliche Institutionen zunehmend ansiedelten. Mehrere Läden verliessen den Ort, zuletzt ein grosses Möbelgeschäft, ebenso mussten über die Jahre viele Beizen schliessen.

«Mit dem Mut zur innovativen Belebung von leer stehenden Räumen hat die Kleinstadt im Toggenburg zu einem neu belebten Selbstbewusstsein gefunden», schreibt die Jury des Wakkerpreises 2023 und meint damit nicht nur das Rathaus für Kultur, sondern etwa auch den Co-Working-Space Macherzentrum in der alten Post und das Projekt Stadtufer, bei dem verschiedene Initiativen in die leer stehenden Räume einer alten Elastikfabrik eingezogen sind: Werkstätten, Ateliers, eine Imkerei oder die Junge Bühne.

Also eigentlich alles in Ordnung? Was beim Rathaus zwischenzeitlich nicht so gut gelaufen sei, sei der Gastrobetrieb (der aber organisatorisch und rechtlich unabhängig vom Rathaus geführt wird). Nun habe dieser einen neuen Betreiber, und er sei zuversichtlich, fügt Müller an. Auch die Petition erwähnt das «Lokal» im Rathaus, weil es erst keinen, dann nur einen tiefen Mietzins bezahlen musste. Die Rathaus-Betreiber:innen widersprechen: Der mittlerweile festgelegte Mietpreis sei ortsüblich.

Welchen Rückhalt hat das Rathaus im Lichtensteiger Gewerbe? In den Beizen sind auch kritische Töne zu hören, etwa in der Spanischen Weinhalle – der «Spanischen», wie man hier sagt, einem Bilderbuchspunten – oder im «Kreuz»: Unverständnis dafür, dass die Künstler:innen von der Gemeinde so unterstützt werden, die Beizerinnen und Gewerbler jedoch nicht.

Andere, wie etwa Mitarbeiterinnen im Bioladen Radiesli, der auch erst vor zweieinhalb Jahren eröffnet hat, oder im Volg, gehen zwar selbst nicht ins Rathaus, haben damit aber kein Problem. Und Goran, der Betreiber der Pizzeria «L’Angolino», findet das Projekt super. Vor zehn Jahren ist er nach Lichtensteig gekommen, vor wenigen Monaten konnte er die Pizzeria, in der er schon vorher gearbeitet hatte, übernehmen. Er habe nur leider jetzt, wo auch seine Kinder in der Schweiz lebten, nicht mehr so viel Zeit für die Anlässe im Rathaus.

Eine Frage des Standortmarketings?

Mathias Müller ist auf einem Bauernhof zwei Gemeinden weiter aufgewachsen. Kein kulturaffiner Haushalt, wie er sagt: «Für mich war eher Fussball wichtig.» Trotzdem ist er von der positiven Wirkung des Rathauses überzeugt. Mit den Betreiber:innen ist er sehr zufrieden, sie seien professionell, zuverlässig, pflichtbewusst.

Ist es das, was junge Kulturschaffende wollen? Das eigene Projekt als Perle des Standortmarketings einer Kleinstgemeinde? Kressig und Sturzenegger sehen das pragmatisch: «Solange man die gleichen Ziele hat oder solche, die sich vereinbaren lassen, ist es doch eigentlich eine Win-win-Situation.» Die Trennung der Organisationen Dogo und Rathaus für Kultur helfe aber auch dabei, unabhängig zu bleiben. «Das Rathaus ist viel stärker ein Vermittlungsprojekt, es soll niederschwellig sein und möglichst verschiedene Menschen ansprechen. Dagegen können wir im Dogo ein spezifischer kunstinteressiertes Publikum bespielen und eher einfach machen, worauf wir Lust haben», sagt Kressig.

Auftritt von Lynn Aineo am ersten «Kultur verussen» 2021
Was macht man im Lockdown in einer Kleinstadt? Man entwickelt ein neues Festival. Auftritt von Lynn Aineo am ersten «Kultur verussen» 2021.  Foto: Hanes Sturzenegger

Der Betrieb des Rathauses ist an klare Vorgaben und Erwartungen gebunden. Die Betreiber:innen haben einen Gebrauchsleihvertrag, müssen also keine Miete, nur die Nebenkosten bezahlen – dafür geben sie der Gemeinde etwas zurück. Das heisst in erster Linie, dass das Haus der Bevölkerung als Begegnungsort öffentlich zugänglich bleiben muss, etwa durch Veranstaltungen und Vermietungen, Vernetzung mit regionalen Kunstschaffenden oder das Fördern von Kulturprojekten. «Das ist unseren Kritiker:innen ja nicht bewusst: wie wahnsinnig viel Arbeit das alles ist», sagt Kressig.

Die Mieten, die von den Ateliers und dem Gastronomiebetrieb in die Kasse des Rathauses für Kultur fliessen, werden für den Unterhalt, die Nebenkosten und die Reinigung eingesetzt. In den Räumen des Rathauses finden bis heute Trauungen statt, sind ein Textil-, ein Schmuck- oder ein Möbelatelier eingemietet, wohnen die Residenzgäste. Beim Besuch des Gastrobetriebes «Lokal» stellt Betreiber Christof Gasser gerade Tannenbäume in den angrenzenden Saal, der in der Weihnachtszeit als Raclette-Stube geführt wird. Fünf- oder sechsmal im Jahr gibt es im Rathaus Kellerpartys für ein jüngeres Zielpublikum, sonst Konzerte, die ein breites Altersspektrum ansprechen sollen.

Ein klassischer Kulturbanause

Das klingt alles in allem ziemlich vernünftig. Und kaum nach abgehobener, linksradikaler oder sonstwie aneckender Kultur – sondern eher nach einer Antwort auf die Frage, wie ein inklusives Kulturangebot im ländlichen Raum möglich sein kann.

Nur gibt es solche, denen ist auch das zu viel. Die «Petition für eine Umnutzung vom Rathaus für Kultur» wurde von der örtlichen SVP lanciert. Darin heisst es: «Das Ziel einer Gemeinde sollte nicht sein, Wakkerpreise zu gewinnen. Eine Gemeinde hat auch nicht ein Kulturveranstalter zu sein.» Hingegen solle eine Gemeinde dem Gewerbe möglichst freie Hand geben, sagt Roman Hug. Hug ist Präsident der Lichtensteiger SVP, er kommt mit seinem Kollegen Carlo Schoch ans Gespräch im Burgerladen «Happy Life». Sich selbst bezeichnet Hug als «klassischen Kulturbanausen».

Wer ist Teil einer Gemeinde, wer gestaltet sie mit, entwickelt sie weiter? Immer wieder fällt im Gespräch mit den beiden SVP-Vertretern der Begriff des «Urlichtensteigers». Auf Nachfrage definieren sie: «Das sind Leute, die hier geboren sind oder die die Geschichte kennen.» Die Betreiber:innen des Rathauses, obwohl in der Region aufgewachsen, nehmen die beiden als fremd wahr. Sie bildeten eine «Parallelgesellschaft» im Städtli, so steht es auch im Petitionstext. Dass junge Menschen aus der Gegend hierhin (zurück-)kommen, sich Leute aus aller Welt mit dem Ort auseinandersetzen – schön und recht, aber kosten, das soll es die Gemeinde nichts.

Die beiden SVP-Vertreter nennen drei Punkte immer wieder: Kultur müsse selbsttragend sein («den Steuerzahler» nicht belasten) und «politisch neutral» (sprich: nicht «linkspolitisch») und, wenn schon, eine möglichst breite Bevölkerungsschicht ansprechen – «aber nicht unbedingt mich!», wie Hug betont. (Schlager empfinde er persönlich als eine Art Höchststrafe, würde sich aber nicht dagegen einsetzen, weil er vielen Leuten gefalle.) Welchen Wert ein Kulturzentrum abgesehen von allfälligem finanziellem Gewinn für einen Ort haben kann, findet in dieser Argumentation keinen Platz.

Was in Lichtensteig im Kleinen passiert, passt zur nationalen Kulturpolitik der SVP. Hug und Schoch argumentieren auf Linie des SVP-Parteiprogramms, in dem die «staatliche Kulturförderung» als Gefahr für die «gelebte Volkskultur» beschrieben und Kultur als absolute Privatsache basierend auf Freiwilligkeit imaginiert wird. Kultur ist immer Supplement, weil nicht «essenziell» fürs Überleben – also auch für eine Gesellschaft nicht wichtig. Wichtig sei hingegen, wie Schoch sagt, «am Morgen aufstehen, krampfen, niemandem zur Last fallen».

Als dieses Jahr die Thuner SVP eine Motion zur schrittweisen Streichung der Subventionen für das altehrwürdige Kulturlokal Mokka einreichte, zählte der dortige Parteipräsident gegenüber der «Jungfrauzeitung» die exakt gleichen Argumente auf. Am Schluss läuft es, zumindest an der Oberfläche, auf das Immergleiche hinaus: Geld, Geld, Geld. Die ideologische und kulturfeindliche Haltung, die darunterliegt, blitzt im Gespräch trotzdem wiederholt auf. Stadtpräsident Müller sagt es so: «Schauen Sie, die Kultur kostet unsere Gemeinde 80 000 bis 100 000 Franken im Jahr. Bei der Badi haben wir jedes Jahr 150 000 Franken Defizit. Redet irgendjemand hier über Sinn und Unsinn der Badi? Natürlich nicht.»

Leider ist genau das der Hebel, der den meisten Kulturbetrieben das Genick brechen kann, egal ob altehrwürdig oder frisch geschlüpft. Die SVP weiss das. Was übers Gesamtbudget gesehen kaum nennenswerte Beträge sind, bedeutet für einen Betrieb wie das «Mokka» oder das Rathaus für Kultur den Erhalt ihrer Existenz. Im Fall des Rathauses müssen sich die Betreiber:innen zum Glück wenig Sorgen machen: Der Gemeinderat hat mehrmals betont, dass das Projekt weitergeführt werden soll.

Letzte Woche haben sich Betreiber:innen und SVP-Vertreter zu einer Führung im Rathaus und einem Gespräch getroffen; gekannt hatten sie sich vorher nicht. Roman Hug hat für den Anlass einen Toggenburger Schlorzifladen gebacken. Einen sehr guten Schlorzifladen, wie Maura Kressig sagt. Über den Wert von Kultur und der Wirkung des Rathauses sei man sich nicht einig geworden, «sie haben uns jedoch zugestimmt, sich in der Petition etwas im Ton vergriffen zu haben.»* Einig war man sich auch darüber, dass im Grunde beide Seiten viel Herzblut in die Gemeinde Lichtensteig steckten, nur eben mit verschiedenen Vorstellungen, was gut sei für den Ort. Abgesehen davon unterscheiden sich die Wahrnehmungen stark: Die SVP ist nach wie vor überzeugt, mit der Petition einem Grossteil der Bevölkerung aus dem Herzen zu sprechen, während die Rathaus-Betreiber:innen aufgrund der vielen gut besuchten Veranstaltungen eher das Gegenteil vermuten.

Eine Parallelgesellschaft? Eher ist es wohl so, dass selbst in einer kleinen Gemeinde nicht alle gleich sein müssen, um gut und gerne miteinander leben zu können.

*Korrigenda vom 30. November 2023: In der gedruckten Ausgabe sowie in der alten Onlineversion stand an dieser Stelle ein falsches Zitat. Wir bitten die Rathaus-Betreiber:innen um Entschuldigung.

WOZ Debatte

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Kommentare

Kommentar von Brogli_Schoder…

Fr., 01.12.2023 - 13:37

Da wird ganz gezielt an einem neuen populistischen Feinbild gearbeitet: Kunst und Kultur als Steuergeldvernichtung. Zum Glück gibt es Kulturschaffende wie in Lichtensteig und einen Stadtpräsidenten mit Rückgrat.
Als Nebenbemerkung: der im Artikel sogenannt brutalistische Kirchenbau würde ganz sicher auch von den Initianten der SVP Petition abgelehnt. Ich habe mir vor ein paar Jahren die Kirche mal genauer angeschaut, auch herausgefordert durch ihre auffälliger Aussenarchitektur. Es blieb ein bleibendes positives Erlebnis.