Ein Traum der Welt: Alle Winkel des Herzens

Nr. 5 –

Annette Hug liest in einer Demenzabteilung

«Wir haben alle damit zu kämpfen, dass da Mordsumwälzungen stattfinden», sagt meine Verwandte am Telefon. Sie spricht aber nicht davon, was sie im Fernseher sieht – nicht von der Ukraine, nicht vom Nahen Osten. Leute verschwinden. Sie hatte zwei Ehemänner, und beide hatten denselben Vornamen, jetzt sind sie nicht mehr auseinanderzuhalten. Wenn wir viel Zeit haben, nimmt sie allen Mut zusammen und fragt: «Lebt der eigentlich noch?»

Auch Frau Mehmedi ist verschwunden, meine Verwandte hat sie stets als ihre Anwältin bezeichnet oder als liebste Nachbarin, als Tausendsassa. Ich kannte sie als Stationsleiterin. Seit fast zwei Monaten ist sie nicht mehr da, und man wisse nicht, wie es weitergehe, sagen die Nichtdiplomierten, mit denen man reden kann. Je diplomierter, desto verschwiegener ist die Station, im Moment wieder wie in schlimmsten Coronazeiten: Auf die Bitte um ein Gespräch zur medizinischen Behandlung schalten Führungspersonen auf zuckersüss, wechseln schnell in einen belehrenden Ton und machen deutlich, dass sie überhaupt keine Zeit haben und Angehörige eher stören. Es sei denn, jemand muss dringend Nachthemden oder Duschgel einkaufen. Frau Mehmedi habe ein Burn-out, hört man. «Es ist vieles ringsherum, in den Häusern, da soll vieles anders werden», versucht meine Verwandte zu berichten, «ich denke, wir werden demnächst einiges in diesem Theater haben.»

In ihrem Innern werden die Worte weniger, wenn aber schöne Worte von aussen kommen, blüht sie auf. Zufällig hatte ich einmal «Madame Bovary» von Gustave Flaubert dabei und begann in einer Gesprächsflaute, daraus vorzulesen. Seither stelle ich fest, dass man in diesem Roman überall einsteigen kann, immer sind die Sätze dicht und wecken augenblicklich volle Aufmerksamkeit.

Endlich ist Emma Bovary an einen Ball eingeladen, «im Lichterglanz der gegenwärtigen Stunde verwehte die eben noch so klare Erinnerung an ihr früheres Leben völlig; es dünkte sie fast unmöglich, dass sie es gelebt hatte». Jede Szene führt irgendwann zurück nach Hannover, wo meine Verwandte als Kind Zeitungen austragen musste und wo sie sich am Silbersee selber das Schwimmen beigebracht hat. Mit schlingenden Algen um die Beine. «Rumheulen war da nicht», sagt sie, wenn im Speiseraum hinter uns jemand weint. «Die will immer gleich die Mama, bei mir ist als Kind schon keine Mama gekommen.» Der Ton im Speiseraum ist wieder rüder geworden, seit Frau Mehmedi weg ist. Im vergangenen Jahr hat ihr Team viel Neues ausprobiert, damit Leute nicht ins Leere rufen und die Stimmung gelöster wird.

«Ihr Leben jedoch war kalt wie ein Speicher, dessen Luke nach Norden liegt, und die Langeweile, die schweigsame Spinne, wob im Schatten ihr Netz über alle Winkel ihres Herzens.» «Lies das noch mal», sagt meine Verwandte, «das kenne ich», und viele fragen sich, wie Emma Bovary: «Warum, mein Gott, habe ich geheiratet?»

Aus einer alten Zeit steigen Gerüche und Ansichten auf: triefende Wände, feuchte Fussbodenfliesen, Mohnblumen, eine Drehorgel. Man kann sich gut vorstellen, sagt meine Verwandte, «wie die Gefühle wanken». «Und so gerieten sie beide in eines jener uferlosen Gespräche, deren Zufallssätze immer auf den festen Mittelpunkt einer gemeinsamen Sympathie zurückführen.»

Annette Hug ist Autorin und bewundert in einem unruhigen Speiseraum «Madame Bovary» von Gustave Flaubert in der Übersetzung von Ilse Perker und Ernst Sander.