Literatur: Die, die sich wundern

Nr. 49 –

Buchcover von «Laufendes Verfahren»
Kathrin Röggla: «Laufendes Verfahren». Roman. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2023. 208 Seiten. 34 Franken.

Es war einer der grössten Prozesse im Nach-Wende-Deutschland: Ein Münchner Gericht hat von 2013 bis 2018 über die rassistischen Verbrechen der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) verhandelt: unter anderem zehn Morde, fünfzehn Raubüberfälle und zwei Sprengstoffanschläge. Trotz Verurteilung der meisten Angeklagten (die Bekannteste ist Beate Zschäpe) wurden Prozessführung, vorausgegangene Ermittlungspannen und Vertuschungen teils harsch kritisiert. Und es hiess, das Urteil könne «kein Schlussstrich» sein.

Dies ist der Hintergrund des Romans «Laufendes Verfahren» von Kathrin Röggla. Die in Köln lebende österreichische Autorin dampft ihre Recherchen und Reflexionen rund um den Prozess auf 200 Seiten flüssige Prosa ein, wobei alles von einem Wir erzählt wird. Hinter dieser Erzählstimme steckt sowohl die Verfasserin als auch ein Kollektiv von Prozessbeobachter:innen. Deren Stimmen, die das komplexe Verfahren aus unterschiedlichster Warte kommentieren, werden im Buch mit saloppen Etiketten versehen: «Gerichtopa», «O-Ton-Jurist», «Omagegenrechts».

«Wir werden die sein», schreibt Röggla über dieses Kollektiv, «die Neugierigen und scheinbar Unbeteiligten, die, die erst mal auf keiner Seite stehen […], die historisch und zeitgeschichtlich Erschreckten, die Aufgeschreckten, dass so eine Mord- und Terrorserie in Deutschland möglich sein kann. Wir werden die sein, die sich wundern.»

Röggla findet einen suggestiven Sound für das Palaver im Kollektiv, und sie bringt vor allem die Defizite in der Aufklärung und Verfolgung der rechtsextremen Szene in Deutschland auf den Punkt. Dennoch überzeugt ihr vielstimmiger Ansatz in der Umsetzung nicht ganz: Zu viel wird für die Lesenden vorausgesetzt, zu wenig Konturen bekommen die einzelnen Stimmen, zu unkonkret wird von den Opfern, den fürchterlichen Taten und vor allem von jenen gesprochen, die neben den Schuldiggesprochenen für das unfassbare Geschehene politisch mitverantwortlich sind.

Die Autorin liest am Mittwoch, 13. Dezember 2023, um 19.45 Uhr im Aargauer Literaturhaus in Lenzburg.