Nationalsozialistischer Untergrund: Schweizer Kontinuitäten
Das neonazistische Terrornetz NSU wies vermutlich engere Verbindungen zu hiesigen Akteur:innen auf als bisher bekannt.
Eine Recherche des deutschen Magazins «Spiegel» wirft ein neues Licht auf die Rolle der Schweiz im Zusammenhang mit der Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Das neonazistische Terrornetz um das Kerntrio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe verübte zwischen 2000 und 2007 neun Morde an Menschen mit Migrationsgeschichte und einen Mord an einer Polizistin, hinzu kamen drei Sprengstoffanschläge und über ein Dutzend Raubüberfälle. Das Trio, das aus Jena in Thüringen stammte, war 1998 abgetaucht und mehr als ein Jahrzehnt unentdeckt geblieben, ehe es sich im November 2011 selbst enttarnte: Nach einem missglückten Banküberfall brachten sich Mundlos und Böhnhardt um, Zschäpe stellte sich der Polizei.
Nun hat die verurteilte Rechtsterroristin gemäss «Spiegel» gegenüber dem Bundeskriminalamt über «längere Abwesenheiten von Mundlos» ausgesagt. Unter anderem soll der NSU-Terrorist «eine jahrelange Beziehung mit einer in der Schweiz lebenden Frau» gepflegt haben. Die deutschen Ermittler:innen gingen diesem Hinweis nach und identifizierten eine Frau im Kanton Zürich, die über Jahre eine zentrale Akteurin und Konzertveranstalterin innerhalb des international organisierten neonazistischen Netzes Combat 18 (C18, für «Kampftruppe Adolf Hitler») war. Gemäss «Spiegel» bestreitet die heute 39-Jährige, Mundlos gekannt zu haben oder jemals mit ihm liiert gewesen zu sein. Es gilt die Unschuldsvermutung.
Auch wenn die Aussage Zschäpes noch nicht verifiziert werden konnte, so ist sie doch plausibel. Und bei weitem nicht die erste Spur im NSU-Komplex, die in die Schweiz und auf hier verfestigte neonazistische Strukturen verweist. Bei allen zehn Morden, die dem NSU angelastet werden, kam dieselbe Česká-Pistole zum Einsatz. Die Tatwaffe gelangte mutmasslich über den Schweizer Hans-Ulrich M., der sie im Frühjahr 1996 erworben hatte, nach Jena: zunächst ins Milieu der organisierten Kriminalität, später in die lokale Neonaziszene und von dort zum NSU-Kerntrio. Welche Rolle der Schweizer in der NSU-Waffenbeschaffung genau spielte, ist bis heute nicht restlos geklärt, er weigerte sich stets, in Deutschland vor Gericht auszusagen.
Eine weitere Schweizer NSU-Spur führt ins Rechtsrockmilieu, was alles andere als ein Zufall ist: Musik war und ist für organisierte neonazistische Gruppen ein zentrales Betätigungsfeld. Sie dient der Finanzierung von Strukturen, der internen Vernetzung und der Rekrutierung von Nachwuchs (siehe WOZ Nr. 42/16). Konkret geht es um einen Vorfall im Frühjahr 1998, als das Landeskriminalamt Thüringen einen Anruf aus einer Telefonzelle in Concise im Kanton Waadt abfing. Der Anrufer war mutmasslich Uwe Mundlos, der einer Kontaktperson in Jena Unterstützungsleistungen für das NSU-Kerntrio in Auftrag gab. Am selben Tag fand in Concise ein neonazistisches Konzert mit etwa 300 Besucher:innen statt – bis heute sind mögliche Verbindungen des Trios zu damals aktiven Neonazis in der Romandie nie eingehend untersucht worden.
Am schwersten wiegt jedoch der Fall Ralf Marschner. Dieser war unter dem Decknamen «Primus» von 1992 bis 2002 als «V-Mann», als Spitzel des Verfassungsschutzes also, in der Neonaziszene rund um Zwickau in Sachsen tätig, wo das NSU-Kerntrio jahrelang unbemerkt lebte. Er soll Mundlos Anfang der nuller Jahre in seiner damaligen Baufirma beschäftigt haben. 2013 wurde er als V-Mann entlarvt, war aber da bereits abgetaucht – in die Ostschweiz, wo er heute noch lebt. Er ist von den Strafverfolgungsbehörden zwar befragt worden, im NSU-Prozess musste er aber nicht aussagen. Die Schweiz hat 2016 ein Auslieferungsgesuch Deutschlands (wegen Insolvenzverschleppung) abgelehnt.
So lässt sich neben den Spuren in die Schweiz auch eine deutliche Kontinuität feststellen: Die hiesigen Behörden haben erschreckend wenig Aufklärungswillen gezeigt, um bis heute bestehende Lücken zu schliessen und offene Fragen im NSU-Komplex zu klären. Von einer «schonungslosen Aufklärung», wie sie die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel 2011 den Hinterbliebenen der Mordopfer versprach, kann noch immer keine Rede sein. Die Schweizer Behörden tragen daran eine Mitverantwortung.
Kommentare
Kommentar von Fliegendruck
Fr., 14.06.2024 - 11:48
"war aber da ereits abgetaucht" ich wünsche uns wenigstens in der Digiversion, dass der B auftaucht, danke!
Resttext ist traurig genug.