Deutschland: Das Mordtrio und die guten alten Freunde
Beim Prozess gegen die Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) zeigt sich, dass die zehn Morde nicht einfach die Tat eines autonom operierenden Trios waren. Die Erkenntnisse nach sechzehn Verhandlungstagen.
Schnell schreitet Beate Zschäpe durch die Tür in den Gerichtssaal. Kaum ist sie bei der Anklagebank angekommen, dreht sie sich mit dem Gesicht zur Wand. Ihre drei Anwälte schirmen sie sogleich ab. Den FotografInnen im Saal A 101 des Oberlandesgerichts München will Zschäpe kein Bild liefern. Die Arme vor dem Oberkörper verschränkt wartet sie, bis die Kamerateams und FotografInnen den Saal verlassen müssen. Zschäpe ist hier die Hauptangeklagte. Es geht in diesem Prozess um die Taten der Terrororganisation Nationalsozialistischer Untergrund (NSU).
Seit dem 6. Mai wird in München verhandelt. Neben Zschäpe stehen der Mitbeschuldigte Ralf Wohlleben sowie die drei Unterstützer Holger G., Carsten S. und André E. vor Gericht. Die NSU soll in einem Zeitraum von vierzehn Jahren zehn Morde, mindestens zwei Bombenanschläge mit 22 Verletzten sowie fünfzehn Banküberfälle verübt haben. Rund zwei Jahre soll der Prozess dauern. Über siebzig NebenklägerInnen sind an dem Verfahren beteiligt, mindestens 370 ZeugInnen werden erwartet.
Völkisch-rassistische Vorstellungen
Bei der Verlesung der Anklage am 15. Mai hatte Zschäpe keine Miene verzogen. Bundesanwalt Herbert Diemer hält der 38-Jährigen vor, 1998 zusammen mit den inzwischen toten Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt die Terrorgruppe NSU gegründet zu haben, um «durch Mord- und Sprengstoffanschläge ihre nationalsozialistisch geprägten völkisch-rassistischen Vorstellungen von einem ‹Erhalt der deutschen Nation› zu verwirklichen». Zschäpe habe den «Rückzugsraum» geschaffen, indem sie als «nette Nachbarin» die Kontakte zu den AnwohnerInnen pflegte, während Mundlos und Böhnhardt loszogen und mordeten.
Durch das «Abtarnen» der Taten von 1998 bis 2011 sei Zschäpe mitverantwortlich für die Ermordung von Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik, Halit Yozgat und Michèle Kiesewetter. Kaltblütig haben Mundlos und Böhnhardt von 2000 bis 2007 ihre völlig überraschten Opfer mit Schüssen ins Gesicht hingerichtet – acht türkischstämmige Männer, einen Griechen sowie eine deutsche Polizistin. Zschäpe, so der Bundesanwalt, soll auch das Beutegeld aus den Banküberfällen verwaltet haben. Zudem wirft er ihr vor, einen Brand in der gemeinsamen Wohnung in Zwickau gelegt zu haben, um Spuren zu vernichten. Diemer klagt sie zudem an, einen Propagandavideoclip, in dem die Opfer verhöhnt werden, an verschiedene Adressaten verschickt zu haben.
In den Verhören des Bundeskriminalamts (BKA) haben Holger G. und Carsten S. als einzige Beschuldigte Aussagen gemacht. Die Anklage beruht zu einem grossen Teil auf den entsprechenden Vernehmungsprotokollen. Schon am siebten Verhandlungstag versuchte Holger G., sich bei den Angehörigen der Opfer zu entschuldigen. «Ich bin entsetzt über das Ausmass und das Leid», las er aus einer Erklärung vor. Bis zum Auffliegen des NSU-Trios hatte er seine «langjährigen Freunde» unterstützt, ihnen eine Waffe besorgt und Pässe zukommen lassen. Seit der Erklärung schweigt Holger G., wohl um sich nicht weiter zu belasten. Aber Carsten S. redet. Über mehrere Verhandlungstage stellte er sich den Fragen des Gerichts und der NebenklägerInnen – und belastete dabei Ralf Wohlleben schwer, der wegen Beihilfe zum Mord angeklagt ist.
Hilfe von NPD-Mitgliedern
Mit den Aussagen von Carsten S. ist immer deutlicher geworden, dass die Theorie der anklagenden Bundesanwaltschaft auf wackligen Füssen steht. Bislang hatte Bundesanwalt Diemer immer betont, das Trio Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt habe abgekapselt und allein gehandelt, nur am Rand unterstützt von Wohlleben und anderen. Nun muss jedoch angenommen werden, dass die Morde von einem viel breiteren Netzwerk mitgetragen wurden und dass einige ausserhalb des Trios offenbar recht viel über die Taten wussten.
Wohlleben war in der rechtsextremen Szene in Jena und darüber hinaus im Bundesland Thüringen eine zentrale Figur. Er war sowohl Mitglied bei der rechtsextremen Gruppe Thüringer Heimatschutz wie auch Funktionär der legalen Rechtsaussenpartei NPD. Carsten S. sagte, er habe mit Wohlleben Rücksprache genommen, bevor er im Frühjahr 2000 dem Trio in einem Abbruchhaus eine Ceska 83 mit Schalldämpfer übergab – die spätere Tatwaffe bei neun Morden. Später sagte er, Wohlleben habe ihm lachend erzählt, dass «die Uwes» – also Mundlos und Böhnhardt – jemanden angeschossen hätten. Hoffentlich nicht mit der Waffe, will er damals gedacht haben. Carsten S. war im Jahr 2000 stellvertretender Bundesgeschäftsführer der NPD-Jugendorganisation. Ihm fiel weiter ein, dass «die Uwes» bei der Übergabe der Waffe gesagt hätten, «in Nürnberg in irgendeinem Laden eine Taschenlampe hingestellt» zu haben.
Die seltsame Nähe der Spitzel
Mit dieser Andeutung kann möglicherweise ein weiterer Anschlag der NSU zugeschrieben werden: Am 23. Juni 1999 war in einem Bierlokal in der Nürnberger Südstadt, das ein türkischer Pächter betrieb, eine Bombe explodiert – versteckt in einer Taschenlampe. Ein Achtzehnjähriger wurde damals verletzt. Mit der Aussage von Carsten S. erhärtet sich, dass er wie Wohlleben jahrelang von den Taten des Trios Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt wusste.
Das Trio war am 4. November 2011 aufgeflogen. In Eisenach wollten Polizeibeamte zwei Bankräuber stellen, doch sie fanden zwei tote Rechtsextreme. Mundlos und Böhnhardt wollten nach dem Überfall auf eine Bank in einem Wohnmobil fliehen. Die Beamten entdeckten das Fahrzeug, Schüsse fielen, Mundlos erschoss erst Böhnhardt, zündete dann das Wohnmobil an und tötete sich selbst. In Zwickau setzte Zschäpe die Wohnung in Brand. Vier Tage später stellte sie sich in Jena der Polizei mit den Worten: «Ich bin die, die Sie suchen.»
Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos kamen aus derselben rechtsextremen Szene. Sie waren in der Kameradschaft Jena und im Thüringer Heimatschutz aktiv. In dieser Szene, die mit dem Netzwerk Blood and Honour verbunden war, bewegten sich auch die bisher bekannten Helfer des Trios. Was besonders erschreckt: Mindestens 25 der rund 170 Aktiven in diesem Milieu waren Spitzel verschiedener deutscher Geheimdienste. Der Verdacht, dass sich das Trio stärker als bislang von der Bundesanwaltschaft vermutet auf die lokale Thüringer Faschistenszene stützen konnte, erhält dadurch noch deutlich höhere Brisanz.
Dass die Verfassungsschutzbehörden und die Polizei bei der Überwachung des rechtsextremen Milieus in Thüringen offenbar genauso schlampten wie bei der Aufklärung der vielen Morde, beschäftigt inzwischen auch Untersuchungsausschüsse des Bundestags sowie dreier Landesparlamente. Dabei zeigen sich die Behörden wenig auskunftsfreudig. Immerhin weiss man heute, dass die Polizei bereits am 26. Januar 1998, also vor der Mordserie, zwei Garagen des Trios in Jena wegen Verdacht auf Sprengstoffvergehen durchsuchte. Die Verdächtigen wurden jedoch nicht verhaftet. Als Sprengstoff und Bomben gefunden wurden, hatte sich das Trio bereits aus dem Staub gemacht und tauchte dreizehn Jahre lang ab.
«Wir haben kein Vertrauen in die Aufklärungsarbeit», betont Gül Pinar, die Anwältin der Familie des NSU-Opfers Süleyman Tasköprü. Zu den Ermittlungen der Polizei sagt sie: «Sie betrieben einen grossen Aufwand, aber ohne je nach rechts zu schauen.» Im Zusammenhang mit den Morden ermittelte die Polizei jahrelang immer nur gegen die Familien der Opfer. So verdächtigte man sie krimineller Machenschaften und Mafiakontakten und bespitzelte sie. «Wenn die Familie deutsche Wurzeln gehabt hätte, wären die Ermittlungen anders geführt worden», sagt Angela Wierig, eine weitere Anwältin der Familie Tasköprü.
Viele AnwältInnen der Opfer glauben, dass rassistische Ressentiments die Ermittlungen beeinflussten. Sie befürchten, beim Prozess könnte vertuscht werden, dass die Morde aus einem Netzwerk heraus begangen wurden. So übernehmen sie während der Verhandlung immer wieder auch Ermittlungsfunktionen, die eigentlich die Polizei hätte erfüllen müssen. Bei der Vernehmung von Carsten S. versuchten die NebenklägerInnen, Namen von weiteren UnterstützerInnen zu erfahren. Sie haben auch Anträge gestellt, um zufällige Videoaufzeichnungen von Anschlägen und bekannt gewordene Kontakte der Beschuldigten zu Kameraden zu verhandeln.
Beate Zschäpe hört sich solche Anträge ohne Regung an. Seitdem sie sich stellte, schweigt sie – bis heute.