Repression in Russland: Ein Signal an den Staatsapparat
Das oberste Gericht in Moskau hat die «internationale LGBT-Bewegung» als «extremistisch» verboten. Viele queere Menschen rechnen nun mit dem Schlimmsten – und versuchen, aus dem Land zu fliehen.
Wieder ein Verbot, wieder muss sogenannter Extremismus als Begründung herhalten. Letzten Donnerstag verkündete ein Richter des Obersten Gerichts in Moskau in schwarzer Robe und mit von einer Coronamaske fast völlig verdecktem Gesicht einen knappen Urteilsspruch mit weitreichenden Folgen: Von nun an gilt die «internationale LGBT-Bewegung» in Russland als illegal. Eine entsprechende Klage hatte das Justizministerium erst zwei Wochen zuvor eingereicht. Worüber genau das Gericht entschieden hat und – nicht weniger wichtig – von welchen Argumenten es sich dabei leiten liess, bleibt bis auf Weiteres Gegenstand von Spekulationen. Zwar steht die schriftliche Urteilsbegründung noch aus; doch auch die dürfte schon allein deshalb keine Klarheit bringen, weil eine «internationale LGBT-Bewegung» als juristisch fassbare Einheit schlichtweg nicht existiert.
Queere Aktivist:innen, darunter Igor Kotschetkow, einer der Gründer des LGBT Network, hatten nach Bekanntwerden der Klage in Windeseile eine Bewegung mit entsprechender Bezeichnung gegründet, um so ihre formale Beteiligung am Gerichtsprozess durchzusetzen. Ihr Antragsschreiben blieb jedoch unbeantwortet. Auch hatten sich sieben russische Menschenrechtsorganisationen im Vorfeld ihrerseits ans Oberste Gericht gewandt: mit der Forderung, die Klage des Ministeriums als mit dem Gesetz unvereinbar abzulehnen.
«Wir werden das Urteil anfechten», sagt Aktivist Igor Kotschetkow nun. «Das Recht dazu haben wir.» Zwar zog sich der profilierte Menschenrechtler vor einiger Zeit aus dem Leitungsgremium des LGBT Network zurück, dennoch setzt er sich weiterhin für die Rechte sexueller Minderheiten ein. Zusammen mit anderen Gleichgesinnten, die in den vergangenen zwanzig Jahren in Russland trotz zunehmenden staatlichen Drucks Enormes geleistet haben, gelte es, alle möglichen Mittel auszuschöpfen, sagt er.
Aktivismus die Grundlage entziehen
Am Urteil des Obersten Gerichts werde eine Berufung indes kaum etwas ändern, so Kotschetkow, da gebe er sich keinen Illusionen hin. Denn das Hauptziel der Behörden sei es, jeglichen Formen von queerem Aktivismus die gesetzliche Grundlage zu entziehen. «Im vorliegenden Fall werden Menschen nicht für ihre sexuelle Orientierung verfolgt, sondern dafür, dass sie über eine – von der offiziellen Staatsideologie abweichende – Meinung verfügen und sich für die Rechte der LGBTIQ+-Gemeinschaft einsetzen», ist Kotschetkow überzeugt.
Entsprechend gehe es dem Staat um die Bekämpfung jeglichen Engagements an der Basis, das er zu kontrollieren nicht in der Lage sei. Das Urteil, so der Aktivist, sende in erster Linie ein Signal an den russischen Staatsapparat – und an jenen Teil der Bevölkerung, der dem Regime gegenüber loyal eingestellt sei. Im Übrigen haben staatliche Medien die Urteilsverkündung weitestgehend ignoriert.
Die bisherigen Erfahrungen im Umgang mit Angehörigen von wegen «Extremismus» verbotenen Vereinigungen lassen eines vermuten: Durch das jüngste Urteil könnten die Strafverfolgungsbehörden dazu angehalten sein, eine unüberschaubare Gruppe von Menschen ins Visier zu nehmen. Im Fall des Oppositionspolitikers Alexei Nawalny, der zurzeit eine langjährige Haftstrafe verbüsst, führte das Verbot seiner (formal längst aufgelösten) Strukturen zu etlichen Strafverfahren gegen ehemalige Mitarbeiter:innen. So wurde Lilija Tschanyschewa, die Leiterin von Nawalnys Stab in Ufa, zu 7,5 Jahren Straflager verurteilt. Selbst gegen drei seiner Anwälte wird wegen angeblicher Beteiligung an einer extremistischen Organisation ermittelt.
Ein Härtetest für die Clubs
Das Urteil tritt erst am 10. Januar in Kraft. Die Besucher:innen mehrerer LGBTIQ+-Clubs in Moskau bekamen indes bereits am Wochenende einen ersten Vorgeschmack auf das, was noch kommen könnte: Bei Razzien führte die Polizei nicht nur Ausweiskontrollen durch, sondern fotografierte ohne rechtliche Befugnis auch die Dokumente aller Gäste. Dass die Behörden Clubs, in denen die queere Community verkehrt, unter Vorwänden wie der Suche nach illegalen Drogen zusetzen, ist nichts Neues. Einige hatten schon vor dem Urteil von letzter Woche angekündigt, sich für ein breiteres Publikum zu öffnen, um so womöglich für mehr Sicherheit zu sorgen. Da sie für die Behörden leicht als Treffpunkt für kriminalisierte Menschen identifizierbar sind, steht vielen Clubs jedoch nun vermutlich ein Härtetest bevor.
Bei vielen queeren Menschen in Russland hat das jüngste Urteil in Verbindung mit der generell willkürlichen Anwendung der Gesetze Panik geschürt. Dass letztlich alle emigrieren, die im ersten Impuls aus Russland wegwollten, um sich in Sicherheit zu bringen, bezweifelt Aktivist Igor Kotschetkow. Die Berliner Organisation European Queer Alliance of PostOst Community, kurz Equal PostOst, lancierte aufgrund der rasanten Zunahme an Anfragen für eine schnellstmögliche Ausreise einen gesonderten Spendenaufruf. Wer nach den Neujahrsfeiertagen aus Russland Geld überweist, so viel ist sicher, läuft Gefahr, wegen der «Unterstützung einer extremistischen Vereinigung» belangt zu werden. Umso wichtiger ist die Unterstützung aus dem Ausland.