Auf allen Kanälen: Theater im Dilemma
Ist das schon ein antiisraelischer Boykott, oder nimmt das Kulturhaus nur seine Fürsorgepflicht wahr? Der Nahostkonflikt wirft seine Schatten auf das Theater Neumarkt.
Die Vorwürfe sind heftig: Seit August 2021 werde er nur in der Hälfte aller Stücke besetzt, weil er Israeli sei, schreibt der beim Zürcher Theater Neumarkt angestellte Schauspieler Yan Balistoy in einem offenen Brief, den er letzte Woche an «jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger Zürichs» adressierte. Die Leitung habe entschieden, «den antiisraelischen Boykott der Hisbollah in die Arbeitsstrukturen am Theater Neumarkt einzubauen», so schreibt der philippinisch-schweizerisch-israelische Schauspieler weiter. «Setzt das Theater Neumarkt ein Hisbollah-Gesetz durch?», titelte darauf der «Blick», und andere Medien fragten, wie es sein könne, dass sich ein Theater in Zürich nach einem libanesischen Gesetz richte.
In der Heimat gefährdet
Was war passiert? Seit der Spielzeit 2020/21 ist eine libanesische Schauspielerin Teil des Neumarkt-Ensembles. Im Libanon gibt es ein Boykottgesetz, das sowohl persönliche als auch geschäftliche Kontakte zwischen Libanes:innen und Israelis unter Strafe stellt. Als das Theater Neumarkt Balistoy ins Ensemble aufnehmen wollte, sei es vor einem Dilemma gestanden, schreibt der Neumarkt-Dramaturg Eneas Nikolai Prawdzic in einem Instagram-Post. Darin reagierte er auf Balistoys Brief, weil er als Jude und Neumarkt-Mitarbeiter diese Vorwürfe nicht unkommentiert stehen lassen wolle: Die Leitung habe den israelischen Schauspieler ins Ensemble aufnehmen wollen, «ohne die Sicherheit eines bisherigen Ensemblemitglieds zu gefährden». Die Leitung wollte beiden Kunstschaffenden ermöglichen, im Haus zu arbeiten, und weil sie «in der Fürsorgepflicht für alle Mitarbeitenden» stehe, habe sie nach Absprache mit allen Beteiligten diesen Weg gefunden.
Dieser Weg überrascht Thomas Burkhalter nicht. Der Musikethnologe ist Gründer der Musikplattform Norient und des gleichnamigen Norient-Festivals. Er hat mit libanesischen und israelischen Kulturschaffenden gearbeitet und stand auch schon vor ähnlichen Herausforderungen wie das Theater Neumarkt: «Grundsätzlich bekommen libanesische Kulturschaffende ein Problem, wenn im Libanon bekannt wird, dass sie mit israelischen Kunstschaffenden zusammenarbeiten.» Sie oder Familienmitglieder können bedroht werden, bei ihrer Rückkehr keine Arbeit mehr finden. «Der Libanon und Israel haben nie einen Friedensvertrag unterzeichnet und befinden sich damit im Kriegszustand. Deswegen wird im Libanon der künstlerische Austausch mit israelischen Staatsbürger:innen nicht toleriert.» Das Neumarkt-Theater habe anscheinend versucht, sich dieser vertrackten Realität zu stellen und beide spielen zu lassen, ohne die libanesische Künstlerin zu gefährden, «mit der Lösung, dass die beiden nicht gemeinsam auf der Bühne stehen». Wenn man das kritisiere, sei das ein bisschen «Schreibtischphilosophie».
Der Krieg als Zäsur
Das Leitungsteam um Hayat Erdoğan, Julia Reichert und Tine Milz äussert sich wegen einer «rechtlichen Auseinandersetzung» nicht zum Konflikt, bestreitet aber in einer schriftlichen Stellungnahme die von Balistoy erhobenen Vorwürfe: «Anti-israelisches und anti-jüdisches Gedankengut hat bei uns keinen Platz. Genauso lehnen wir das diskriminierende libanesische Gesetz ab.» Die Stellungnahme verweist auf die zahlreichen Kooperationen mit israelischen und jüdischen Künstler:innen und Vereinen.
Einer davon ist der jüdische Kunst- und Kulturverein Omanut. Dessen Präsidentin Karen Roth-Krauthammer sagt gegenüber dem jüdischen Magazin «Tachles» dezidiert, «dass am Neumarkt weder Antisemitismus noch Israelfeindlichkeit oder -boykott herrschen». Im selben Artikel nennt Balistoy den Krieg als Grund, dass er zu diesem Zeitpunkt an die Öffentlichkeit gelangt sei. Es sei eine «perverse Situation»: Die Ideologie derselben Terrororganisation, die seine Familie bombardiere, sei auch Teil der Arbeitsstrukturen, in denen er tätig sei.
Das Neumarkt-Theater lässt die Vorwürfe des Schauspielers, dessen Anstellung laut «Tachles» bereits vor Ausbruch des Krieges ab Sommer 2024 nicht verlängert wurde, nun von einer externen Stelle prüfen. Wie es weitergeht, ist offen. Klar ist: Progressive Kulturhäuser, die sich für eine globalisierte Gesellschaft öffnen, sind dabei mit neuen Schwierigkeiten konfrontiert. Wie damit umgehen? Diese Frage wird künftig wohl nicht nur das Neumarkt-Theater beschäftigen.