Klimakrise: Schlaflos im Anthropozän

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Den dänischen Soziologen Nikolaj Schultz macht die Klimaerhitzung «landkrank». In einem brillanten Essay erzählt er davon – und zeigt dabei, wie wir Freiheit neu denken können.

Haben Sie sich gut erholt über die Festtage – vielleicht eine Woche Strandferien am Roten Meer gemacht, all inclusive, versteht sich, für weniger als 500 Franken? Für etwas mehr als 1000 Franken hätten Sie das auch in Dubai haben können, dort, wo vor Weihnachten die 28. Klimakonferenz stattfand. Rund 80 000 Menschen sollen teilgenommen haben, die Mehrheit reiste mit dem Flugzeug an. Warum also nicht auch Sie, eine kleine Flucht nur? Was bringt denn Verzicht angesichts der globalen Klimakrise?

Die kurze Antwort lautet: Ganz schön viel – zum Beispiel, wenn er quasi kollektiv verordnet wird, wie während der Coronapandemie. Auch der dänische Soziologe Nikolaj Schultz nimmt den Lockdown zum Anlass, zu zeigen, wie rasch die Ökologie wieder ins Gleichgewicht finden kann. Und doch redet der Latour-Schüler nicht dem Verzicht das Wort. Freiheit, so schreibt er in seinem Essay «Land Sickness», ist ein Ideal, mit dem wir viel zu eng verbunden sind, als dass wir sie auf dem Altar unserer irdischen Gebundenheit opfern würden. «Ökologie oder Emanzipation» darf nie zum Ultimatum werden – die Erde würde immer verlieren gegen die Kraft der Freiheit.

Auch Schultz’ Reise begann mit einer Flucht, im Sommer war das, als die Hitze in Paris so unerträglich wurde, dass er nachts keinen Schlaf mehr fand, die Gedanken nur noch kreisten, bis ihm schwindelte. Ein Freund hatte ihn auf sein Segelboot eingeladen, das vor der Insel Porquerolles an der Côte d’Azur ankerte. Die Insel erscheint ihm als «perfect escape», ein zwölfeinhalb Quadratkilometer grosses Paradies, zu achtzig Prozent unter Naturschutz. Gleich am ersten Morgen sucht er sich eine abgelegene Bucht.

Pinke Flamingos

Aber das vermeintliche Paradies entpuppt sich im Gespräch mit Einheimischen rasch als dem Untergang geweiht, und das im Wortsinn: Die Klimaerhitzung lässt den Meeresspiegel ansteigen, Strand und Küste erodieren, die Klippen schwinden Jahr für Jahr um mehrere Zentimeter. Das Seegras mit dem poetischen Namen Posidonia oceanica, das auch als Lunge des Mittelmeers gilt, weil es CO₂ absorbiert und zu Sauerstoff wandelt, ist in den vergangenen fünfzig Jahren um fast ein Drittel zurückgegangen, ebenso die Fischpopulation. Schuld an dieser Entwicklung sind auch die Tourist:innen, die in steigender Zahl die Insel fluten, «Pfade der Zerstörung» hinterlassen und der lokalen Bevölkerung das Trinkwasser streitig machen.

Als sie während der pandemiebedingten Verschnaufpause ausblieben, geschah indes Erstaunliches: Das Wasser um die Insel wurde klarer, und die unterschiedlichsten Lebensformen auf der Insel kamen aus ihren Verstecken und kreuzten Pfade, verbanden sich neu zu einem Ökosystem, das sogar pinke Flamingos anzog, wie Schultz schreibt.

Wo Freiheit gedeiht

Sie sind längst wieder weg, als er die gesuchte Bucht erreicht. Verschwinden soll auch er wieder, bittet ihn eine alte Frau, die um ihren letzten Rückzugsort als Einheimische bangt, wenn bald wieder Tag für Tag 15 000 Menschen auf der Insel von Bord gehen. Die Begegnung lässt den Autor erneut schwindeln. Seine Idee von Flucht ist letztlich bloss eine Fiktion, mehr noch: Sie geht auf Kosten ihres Zuhauses – «meine Freiheit zum Preis ihres Landes». Als hätte er nicht schon in seinen eigenen vier Wänden in Paris darüber sinniert, dass ihn die materiellen Fussabdrücke seines Konsumverhaltens immer anderswo situierten, «meistens dort, wo meine Präsenz gefährlich ist».

Die klassische liberale Vorstellung, wonach Freiheit bedeutet, dass da nichts ist, was die eigene Bewegung im Raum einschränkt, ist nicht länger haltbar. Rasch für ein paar Tauchgänge auf die Malediven fliegen? Oder auch nur mit dem grosswildjagdtauglichen Geländewagen vom Zürichberg zur Arbeit fahren, wie es jüngst ein Lehrer in einer «Rundschau»-Reportage für sich in Anspruch nahm (während er die Klimaaktivist:innen, die seinem Jeep einen Platten beschert hatten, unwidersprochen als «Ökofaschisten» bezeichnen durfte)?

Im Zeitalter des Anthropozäns zu leben, bedeutet, dass sich die Welt, in der wir leben, entkoppelt hat von der Welt, von der wir leben. Eine räumliche Diagnose, der Schultz eine zeitliche Dimension zur Seite stellt: Die Zeit, in der wir leben, hat sich entkoppelt von der Zeit, von der wir leben. «Meine Zukunft ist begraben in der Vergangenheit meiner Grossmutter», schreibt er. Sie, die einst für eine bessere Zukunft mit mehr Freiheit und Wohlstand für die Nachkommen kämpfte, hat diesen damit zugleich die Aussichten auf bessere Lebenschancen abgegraben. Klimaaktivist:innen wie Fridays for Future weisen mit ihrem Namen darauf hin: Er ist eine Kriegserklärung an alle jene, die die Zukunft für selbstverständlich hielten.

Doch wie könnte ein neues Narrativ von Freiheit aussehen? «Freiheit ist nicht etwas, das man kognitiv erfasst», hält Schultz fest, «sondern was man in der Interaktion in gut funktionierenden Gemeinschaften erlebt.» Eine Erkenntnis, die ihn auch mit der Einheimischen auf Porquerolles auf neue Weise verbindet: Seine Freiheit ist abhängig davon, dass die Insel nicht im Meer verschwindet.

Den Kompass neu ausrichten

Doch erst einmal irrt er als Vertriebener im Dickicht der Insel umher, ihm schwindelt schon wieder, von der flirrenden Hitze, den abbrechenden Pfaden und den Gedanken, die sie evozieren: Landkarten taugen nicht mehr zur Orientierung, die Koordinaten sind nutzlos geworden, weil die Landschaft sich verwandelt. Ziemlich brillant, wie hier einer mitten im Gestrüpp der Insel über die terrestrische Gebundenheit des Menschen philosophiert, die einen neuen Freiheitsbegriff bedingt – einen, der nicht auf menschliche Beziehungen beschränkt ist, sondern eine Vielfalt an Existenzformen miteinbezieht. Tiere, Pflanzen, Wasser, Posidonia oceanica – auch sie formulieren einen moralischen Anspruch. Seine Freiheit, so realisiert Schultz, beruht auf dem Boden, auf all den Kreaturen, die auf und in ihm gedeihen, und sie muss mit ihnen ausgehandelt werden.

Dass die Freiheit des Einzelnen dort zu enden hat, wo sie die Unversehrtheit der anderen bedroht, ist als moralischer Imperativ nicht neu. Neu ist, dass die Grenzen der Freiheit gesetzt werden durch den Imperativ der Bewohnbarkeit unseres Planeten. «Unsere Koordinaten sind fehlerhaft», so Schultz, «unser Kompass braucht eine Neukalibrierung angesichts des sich ändernden Magnetismus der Erde.»

Doch wie können wir uns darauf verständigen? Wieder dient dem Autor die Insel Porquerolles als Beispiel – sie, die nicht nur von Tourist:innen kolonisiert wird, sondern ebenso von den ökonomischen, politischen und kulturellen Eliten des Landes, die ihre Wochenendvillen hier bauen oder ihre Jachten im Hafen ankern lassen. Kolonisierung und Ausbeutung haben im Zeitalter des Anthropozäns eine neue Dimension erhalten, sie sind in die soziale Sphäre der Reproduktion hineingewachsen. Und Eliten werden immer das nötige Kapital für einen Plan B besitzen, der sie auch in einer klimageschädigten Welt, deren Ökosystem aus den Fugen geraten ist, überleben lässt. Mark Zuckerberg jedenfalls baut bereits an seinem autarken Bunker auf Hawaii. Andere Silicon-Valley-Techies fantasieren gar davon, den Weltraum zu kolonisieren.

Vielleicht, so könnte ein Fazit aus Nikolaj Schultz’ melancholischem Essay lauten, sollten wir unseren Kompass neu zu kalibrieren beginnen, indem wir uns darauf verständigen, unseren Freiheitsbegriff zu weiten. Nicht, indem wir ihn ins Weltall hinaustragen, sondern indem wir ihn erden, ihm eine terrestrische Dimension verleihen. Zum Beispiel so, wie es Fridays for Future und andere Klimaaktivist:innen tun, die sich auf den Boden kleben oder dafür sorgen, dass SUVs an Ort und Stelle bleiben. Wer sie als «Ökofaschisten» bezeichnet, dem gehört vielleicht tatsächlich die Luft rausgelassen.

«Land Sickness» von Nikolaj Schultz ist auf Englisch bei Polity Press erschienen. Auf Deutsch erscheint das Buch am 12. Februar 2024 unter dem Titel «Landkrank» bei Suhrkamp, mit einem Vorwort von Luisa Neubauer.