Klima: Die Erde neu bewohnen lernen
Was tun angesichts des Klimakollapses? In zwei neuen Bänden wird nach Antworten gesucht: einmal ökofeministisch und in der Tradition Bruno Latours, einmal in Fortführung der kritischen Staatstheorie.
Wie kam es, dass unsere Gesellschaften auf grenzenloses Wachstum – auf exzessive Produktion statt Regeneration – gepolt wurden? In einem neuen Buch gräbt die französische Philosophin Émilie Hache tief in der Geschichte, um diese Frage zu beantworten. Ihre Studie «De la génération» («Über die Erzeugung»), in Frankreich viel rezipiert, erkundet etwa die Bedeutung religiöser Riten aus dem Altertum, geht der Frage nach, wie das frühe Christentum das Verhältnis von Mann und Frau zur Natur deutete, oder erörtert die vielschichtige Herkunft des Wortes «Ökonomie».
Hache ist Ökofeministin und eine Schülerin des 2022 verstorbenen französischen Wissenschaftssoziologen Bruno Latour, der eine der wirkmächtigsten Stimmen im Klimadiskurs war. Ihr Buch steht damit stellvertretend für eine wichtige Strömung in den Diskussionen über Auswege aus dem Klimadesaster – ebenso wie der kürzlich erschienene Essay «Landflucht» des dänischen Soziologen Nikolaj Schultz (siehe WOZ Nr. 1/24).
Erdgeboren in Attika
Hache zufolge gab es historisch gesehen einen tiefgehenden Bruch im Mensch-Natur-Verhältnis: Während in der Antike noch ein sorgsamer Umgang mit den Bedingungen menschlichen Lebens herrschte, der den Blick auf deren Pflege und Erneuerung richtete, setzte sich in der Neuzeit ein Produktionsregime durch, das den natürlichen Reichtum als gegeben unterstellte und der Plünderung preisgab. Vor allem Haches Herleitung dieses Befunds ist ambitioniert: Ihr geht es darum, verschiedenen Kosmologien nachzuspüren – also den ideellen wie auch praktischen Weltverhältnissen, die der Menschheit über die Jahrtausende Orientierung boten.
Das Christentum, das die Welt als ein für alle Mal von einem externen Schöpfergott erschaffen konzipierte, spielt hier eine entscheidende Rolle. Hache stellt der christlichen Theologie die Kosmologie der alten Griech:innen gegenüber, wo sich ein eher zyklisches Denken findet. Dieses begriff die Natur, von der der Mensch zehrt, als etwas Prekäres, das es immer wieder zu erneuern gilt. Die Erzeugung der Lebensgrundlagen dachte und praktizierte man so als einen unabgeschlossenen, weltimmanenten Prozess. Darauf deuten für die Philosophin religiöse Feste hin wie die Thesmophorien zu Ehren Demeters, der Göttin des Ackerbaus, oder auch Totenrituale, die die Verbindung zwischen dem Gestorbenen und daraus wieder neu Entstandenen unterstrichen.
Überhaupt berichtet die griechische Mythologie von der antiken Erdverhaftung: So erwuchs Erichthonios, ein Urvater der Athener:innen, buchstäblich dem Erdboden, nachdem der Samen des Gottes Hephaistos diesen befruchtet hatte. Wenn Latours «terrestrisches Manifest» also vor einigen Jahren forderte, dass wir angesichts der Klimakatastrophe lernen müssten, wieder festen Boden unter den Füssen zu gewinnen, so zeigt Hache hier kulturgeschichtlich: Es gab sehr wohl Zeiten, in denen sich die Menschen als Erdwesen im Sinne Latours begriffen.
«Wie werden wir wieder terrestrisch?», fragt die Philosophin daher. Sie findet in postkolonialen und queerfeministischen Diskursen Impulse, wie sich heute ein geerdetes In-der-Welt-Sein reanimieren liesse. So würden etwa im «alloparenting» – der Fürsorge für Kinder, die nicht die biologisch eigenen sind – neue Möglichkeiten aufscheinen, Verwandtschaft zu denken. Man schlägt hier gewissermassen anders Wurzeln: nicht länger auf die blosse Reproduktion der christlich-patriarchalen Kleinfamilie verengt, sondern mit erweitertem Blick auf das Leben um einen herum. Damit würden bereits «neue Weisen, diese Erde zu bewohnen», erprobt, schreibt Hache, was auch die in der Klimabewegung engagierte Generation Z vorführte: Bei den «queeren Kindern der Erdmutter Gaia» gingen heute das Neuerfinden sexueller Identitäten, Antikolonialismus und ökologisches Bewusstsein fast schon selbstverständlich Hand in Hand.
Der Kapitalismus ist am Ende
Kämpfe zusammenführen wollen ebenso Ulrich Brand und Markus Wissen. Und auch die beiden Politikwissenschaftler fordern in ihrem neuen Buch «Kapitalismus am Limit», den Blick zu weiten. «Solidarität bedeutet auch Solidarität mit der nicht-menschlichen Natur», heisst es bei ihnen programmatisch, was Hache wohl genauso unterschreiben würde.
Brand und Wissen sind «Spiegel»-Bestsellerautoren, wie ein Sticker auf dem Cover ihres neuen Buches bezeugt: Bei «Kapitalismus am Limit» handelt es sich um die Fortsetzung ihrer 2017 erschienenen Analyse «Imperiale Lebensweise», die gleich in mehrere Sprachen übersetzt wurde – ein bemerkenswerter Erfolg für ein Werk aus dem Genre der marxistischen Staatstheorie.
Liest man nun den Nachfolger «Kapitalismus am Limit» parallel zu Haches tief in der Kulturhistorie bohrender Analyse, wird augenfällig, wie unterschiedlich doch Versuche sein können, den Klimakollaps theoretisch zu fassen und politische Antworten zu skizzieren. Beide Bücher teilen ein «praktisches Erkenntnisinteresse», wollen also zur Überwindung der gegenwärtigen Misere beitragen. Sucht man aber Aufschluss darüber, welche politischen Projekte sich im Hier und Jetzt formieren und wo progressive Spielräume entstehen könnten, ist die Analyse Brands und Wissens die richtige Wahl.
Ausgangspunkt ist ihr Konzept der imperialen Lebensweise: Es bezeichnet die «Produktions- und Konsumtionsmuster», «die den tendenziell unbegrenzten Zugriff auf Natur und Arbeitskraft in einem globalen Massstab voraussetzen». Das heisst: So wie Arbeit und Konsum heute organisiert sind, bedeutet dies die Zerstörung der Lebensgrundlagen vieler Menschen, gerade in südlichen Ländern. Das Neue an der jetzigen Situation ist für Brand und Wissen, dass der Kapitalismus tatsächlich an sein Ende gekommen sei: Ihm gingen die Möglichkeiten aus, die von ihm provozierten Krisen «durch räumliche oder zeitliche Verlagerung zu bearbeiten».
Der Übergang zur Kohleverfeuerung sei eine solche zeitliche Verlagerung gewesen: Man reagierte damit auf ein ökologisches Problem – die Holzkrise –, was aber langfristig der heutigen Klimakrise den Weg ebnete. Deren Zuspitzung betrachten die beiden Politologen jetzt als «game changer»: «Die disruptiven Ereignisse, die sich nicht länger nur in der Zukunft andeuten oder auf den globalen Süden beschränken, sondern zunehmend auch in den Alltag der kapitalistischen Zentren einbrechen, lassen sich politisch-institutionell kaum einfangen.»
Grüne Modernisierung
Trotzdem laufen intensive Bemühungen, den Kapitalismus ökologisch zu modernisieren, siehe etwa den European Green Deal, den die EU-Kommission Ende 2019 präsentierte. Allerdings sei der gesellschaftliche Stoffwechsel bereits zu gestört, schreiben Brand und Wissen, als dass dieses Projekt realisierbar wäre. So rechne etwa eine Studie vor, dass die Dekarbonisierung Europas allein schon die Nachfrage nach Lithium bis 2050 mehr als verzwanzigfachen würde.
Diese Sackgasse öffne Spielraum für die autoritäre Rechte, die einfach verspricht, die «sozial-ökologischen Kosten weiterhin zu externalisieren und die antirassistischen, feministischen und klimabewegten Kräfte kleinzuhalten, die genau dagegen aufbegehren». Besonders beunruhigend ist das, weil die imperiale Lebensweise bereits Ergebnis eines Klassenkompromisses war. Brand und Wissen verweisen auf den Humangeografen Matt Huber, der mit Blick auf die USA den erdölbasierten Konsumismus als Hinterlassenschaft «des Klassenkampfes um den ‹Lebensstandard›» deutet: Die Verfügbarkeit von billigem Öl ist für Arbeiter:innen oftmals eine Frage des finanziellen Überlebens. Wenn es aber nun die Grenzen des Planeten unmöglich machen, diesen Kompromiss aufrechtzuerhalten, bedeutet das zwangsläufig, dass stürmische Zeiten bevorstehen.
Es braucht also Gegenstrategien. Brand und Wissen plädieren für eine «verbindende Klassenpolitik», die ökologische Probleme als Klassenfragen begreift und sich Anliegen rassistisch oder sexistisch an den Rand gedrängter Gruppen annimmt – die Nominierung der Klimaaktivistin und Seenotretterin Carola Rackete zur Spitzenkandidatin der deutschen Linkspartei bei den Europawahlen steht für sie exemplarisch für einen solchen Kurs.
Politisch gelte es, den Ausbau «reproduktionsnotwendiger Infrastrukturen» voranzutreiben, also öffentlicher Verkehrssysteme oder des Gesundheits- und Bildungswesens, und gleichzeitig destruktive Wirtschaftsbranchen wie die Autoindustrie rückzubauen. Letzteres klingt gar nicht mal mehr so unerreichbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass eine Mobilitätswende in Deutschland derart viele neue Jobs erfordern würde, dass damit der Abbau in der Automobilproduktion überkompensiert wäre.
Man kann sich trotzdem leicht ausmalen, was für Widerstände ein solches Programm hervorrufen würde. «Politische Subversion», zitieren Brand und Wissen einmal den Soziologen Pierre Bourdieu, setze daher «kognitive Subversion» voraus: ein Untergraben der herrschenden Weltsicht. Subversiv und inspirierend sind sicher auch die Versuche der Latourianerin Hache, die heutigen Erdbewohner:innen kosmologisch neu zu verwurzeln. Allerdings sind die Kämpfe darum, wie der Planet nach dem Kapitalozän aussehen wird, längst im Gang. Um hier die Orientierung zu behalten, sind präzise Vermessungen wie diejenige der beiden Politologen unersetzlich.