X Schneeberger: Hätte doch sein können

Nr. 3 –

X Schneeberger erfindet im dystopischen Roman «suisseminiature» die Schweiz als Höllenloch, in dem einige fluide Identitäten aufbegehren. So ganz anders als im echten Leben ist das nicht.

Portraitfoto von X Schneeberger
Ein Roman wie ein Trip: Für X Schneeberger bedeutet der Untergrund auch Schutz.

«Alles, was mit diesem Buch zu tun hat, geht direkt den Bach runter», sagt X Schneeberger, als wir uns am Bahnhof Bern treffen, es sei vielleicht sogar ein Fluch. Es regnet kalt, Schneeberger friert in der Jeansjacke und wartet, beinahe hätten wir uns verpasst wegen fehlender mobiler Daten und weil das Café, in dem wir uns treffen wollten, unerwartet geschlossen ist. Möglicherweise ist auch Schneeberger als Schriftsteller:in eine beschwörende Instanz? «Ich habe über die Trychler geschrieben, und die Schwurblertrychler kamen. Ich habe über den Tag X geschrieben, und dann kamen wirklich die Nachrichten aus Deutschland zur Planung eines Tag X. Ich habe über Coolio geschrieben, und kurz darauf ist er gestorben. Manchmal sind all die Zufälle wirklich kaum auszuhalten.» Da werde es auf einmal recht naheliegend, doch noch an eine höhere Macht zu glauben oder an Verschwörungstheorien, aber davor ist Schneeberger, zum Glück, gefeit: viel zu wenig lustorientiert, all das.

Alle furchtbar horny

Trotzdem war es eben ein gruseliger Schreibprozess, dabei hatte Schneeberger dem «Bund» vor zwei Jahren noch zu Protokoll gegeben, das zweite Buch, also «suisseminiature», werde dann extra so derart abgefahren, dass wirklich niemand zum Schluss gelangen könne, es sei autobiografisch. Das Debüt «Neon Pink & Blue», 2021 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet, hatte manch Kritiker:in dazu veranlasst, das mit Schneebergers Biografie kurzzuschliessen: ein ungestümes Werk über eine Dragqueen, die aus ihrem Leben erzählt, vom Grossvater, der ein Verdingkind war, vom Aargau, dann die Drogen, die queeren Welten, in denen sie daheim ist. All das trifft auch auf Schneeberger zu, aber die Frage danach, was in einem Roman echt sei und was nicht, ist trotzdem ärgerlich. Ihr geht Schneeberger auch in einer kürzlich erschienenen Dokumentation der Berner Filmemacherin Julia Lanz aus dem Weg: Schneeberger erscheint hier mal in Alltagskleidung, mal in Drag, dann beim Umziehen, auf der Bühne und dahinter, bis sich die Frage nach der realen und der gespielten Figur in all den Gestalten auflöst.

Nun hat «suisseminiature» ebenso eine Dragqueen zur Hauptfigur, und die Schweiz ist erst recht ein Höllenloch, nur etwas verrutscht in Zeit und Raum und auch in der Erinnerung. Der Text überbordet mit Schnipseln und Versatzstücken aus Politik und Popkultur, halbwahren und fantastischen Imaginationen, es könnte im Prinzip alles wahr sein, aber halt auch alles erfunden. Wie jene Erinnerung etwa, als in den Neunzigern an der Street Parade eine chemische Waffe ausprobiert wurde, die die Raver:innen zwar ganz lieb machte, aber auch furchtbar horny, und ganz Zürich in den Strassen lag und fickte: Hätte ja sein können. Hier ists immerhin schön erfunden.

Im Zentrum von «suisseminiature» stehen drei Figuren, die in einem umgebauten «Lovemobil» in einer untergegangenen Schweiz dem Untergrund entgegenrasen: zwei ehemalige Stricher – die Dragqueen als Erzählfigur und ein Schwarzer DJ mit Namen Goldjunge – und die Stripperin LaRabiata, alle schon lange Freund:innen. Ein halbes Leben lang war es ein Tanz mit der Liebe zueinander, immer wieder gescheitert, sich verpasst: «Wir alle drei hatten unzählige und wechselnde Frauen und Männer und so ziemlich alles dazwischen als Liebhabende und waren vor lauter Emanzipation aneinander vorbeigerauscht.»

Jetzt ist es eben dieser Zufall, der die drei zusammenbringt, auf dass sie – aber eben: Was und wohin und warum eigentlich? Eine tatsächliche Mission ist kaum auszumachen, aber die Richtung ist klar: nach unten, die Mittel dazu Drogen aller Art. Das Réduit ist hier auf die ganze Schweiz ausgedehnt, das Land komplett untertunnelt und so verbunden, da geht es nun hin. An der Landoberfläche ist wenig übrig geblieben, auch die real existierende Swissminiatur in Melide ist verlassen. An diesen Ort kehrt die Erzählung immer wieder zurück, die kleinformatigen vermeintlichen Wahrzeichen der Schweiz leiten jeweils ein neues Kapitel ein: Schloss Oberhofen, Zytglogge, Autobahnraststätte Würenlos.

Wütend durchs Labyrinth

Eine Horrorschweiz ist es, die Schneeberger hier zeichnet, aber ist sie wirklich so weit weg von der Realität? Schneeberger sagt es so: «Die Frage war, wenn nur das Allerwichtigste bleibt, der Kern der Schweiz, die Geschichte, die du über diesen Ort erzählen willst: Welche wäre das?» Hier sind es die Fichenaffäre, um die der Text kreist, und die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen der Schweiz zum südafrikanischen Apartheidregime, der Schmerz, mit dieser Vergangenheit und ihrer sehr spärlichen Aufarbeitung leben zu müssen.

Aber geradeaus ist diese Geschichte nicht erzählt, vielmehr gleicht «suisseminiature» einem Labyrinth, in dem man immer wieder an derselben Stelle vorbeiläuft und sich dabei fragen muss, ob man wirklich schon einmal hier war. Die Erzählung ist sprunghaft und voller Löcher, Auslassungen. Das ist anstrengend: Man muss sich entweder arg konzentrieren, lieber aber es einfach mit sich passieren lassen, um damit zurande zu kommen. Ein Text wie ein Trip oder besser: wie ein Backstagetalk, fahrig, wirr.

Und wütend. Schneeberger selbst wirkt nicht hoffnungslos, obwohl auch unser Gespräch von einem düsteren Thema zum nächsten kommt. Einige gute Orte bleiben doch, für Schneeberger etwa der Club – vielleicht gar als Beweis, dass der Untergrund eben auch Schutz bedeutet. «Wenn die Gesellschaft am Arsch ist, ist der Untergrund der Ort, wo Kreativsein möglich ist, wo es Lösungsansätze gibt», sagt Schneeberger. An der Oberfläche dauert das Leben zum Glück an, sogar mit Zukunft: «Ich war ja lange überzeugt, dass unsere Leben bald einmal durch einen Atombombeneinschlag beendet werden, und jetzt bin ich fast fünfzig und denke über meine AHV nach. Da habe ich jetzt den Scheiss, hätte ich mal besser vorgesorgt.» In «suisseminiature» ist es die Freundschaft zwischen den drei Hauptfiguren, die dieser Unglücksschweiz ein grosses Trotzdem entgegensetzt. Wie ist es möglich, diese zu erhalten und fortzuführen, trotz all der Verletzungen, die sich die drei im Verlauf der Jahre angetan haben? Sie probieren es eben.

Buchcover von «suisseminiature»
X Schneeberger: «suisseminiature». Roman. Verlag Die Brotsuppe. Biel 2023. 284 Seiten. 29 Franken.