Auf allen Kanälen: Nichts gelernt
Vor zehn Jahren brachte eine Medienkampagne Brian Keller trotz eines erfolgreichen Resozialisierungsprogramms hinter Gitter. Seit zwei Monaten ist er frei – und bereits wieder im Zentrum öffentlicher Empörung.
Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich, besagt eine oft Mark Twain zugeschriebene Redewendung. So auch im Fall Brian. Am 15. Januar strahlte das SRF-Newsmagazin «10 vor 10» einen Beitrag über den bekanntesten Exhäftling der Schweiz aus. Inszeniert im Stil einer investigativen Recherche, erzählt die Moderatorin, dem SRF sei ein Video zugespielt worden, in dem verstörende Aussagen Kellers zu hören seien. Tatsächlich schockieren die Äusserungen im Mitschnitt des Videoanrufs: «Ich werde dich töten», «dein Blut wird fliessen» und «schau, diese Klinge», sagt er da, während er ein Messer in die Kamera hält und seinem Kontrahenten, dem Influencer Skorp, droht. Ähnliches erzählte er seinen Follower:innen auf Tiktok.
Wie vor Gericht
Noch verstörender ist aber das, was folgt. Zuerst tritt der forensische Psychiater Frank Urbaniok vor die «10 vor 10»-Kamera: Brians Aussagen seien «ein Alarmzeichen», das belege, «dass man das näher abklären muss». Anschliessend bittet SRF einen Strafrechtsexperten um Einordnung. Mit ernstem Blick zählt der Anwalt Straftatbestände auf: Drohung, Beschimpfung, Aufforderung zu Gewalt. Die Art, wie im Beitrag Beweise und Gutachten vorgelegt werden, erinnert an eine Gerichtsverhandlung. Die Öffentlichkeit übernimmt dabei die Funktion der Richter:innen. Wie das Urteil ausfallen wird, ist genauso absehbar wie die Botschaft des Beitrags: Der ist gefährlich, da muss etwas unternommen werden.
Das ist auch deshalb beunruhigend, weil es schon einmal passiert ist. Es war im Jahr 2013, als SRF den Dokfilm «Der Jugendanwalt» ausstrahlte. Im Beitrag wurde der Anwalt Hansueli Gürber porträtiert, der mit Einfühlungsvermögen und unkonventionellen Methoden mit jugendlichen Straftätern umging. Einer von ihnen war Brian Keller, im Dokfilm als Carlos anonymisiert. Trotz seiner jungen siebzehn Jahre hatte er bereits eine lange Geschichte von Delikten und Aufenthalten in geschlossenen Einrichtungen vorzuweisen.
Das sogenannte Sondersetting, das für Kellers Resozialisierung entworfen wurde und das monatlich über 20 000 Franken kostete, nahm der «Blick» zum Anlass für eine Hetzkampagne, der sich zahlreiche Schweizer Medien anschlossen. Die öffentliche Empörung war gross. Obwohl sich das Sondersetting bewährt hatte, wurde Brian kurz darauf auf Anweisung der politischen Entscheidungsträger, die unter dem öffentlichen Druck einknickten, wieder eingesperrt. Widerrechtlich, wie das Bundesgericht später urteilen sollte.
Was danach folgte, lässt sich detailliert in der «Brian-Chronik» von Humanrights.ch nachlesen: eine tragische Aneinanderreihung von Verhaftungen und Gewaltdelikten Brians ausserhalb, vor allem aber innerhalb von Vollzugsanstalten; Haftbedingungen, die sogar den Uno-Sonderberichterstatter für Folter auf den Plan riefen. Nach siebeneinhalb Jahren Haft wurde Brian Keller im letzten November freigelassen.
Nun, rund zwei Monate auf freiem Fuss, hat sich Keller wieder einen Fehltritt geleistet – quasi live übertragen von SRF. Obwohl damals von verschiedenen Seiten scharfe Kritik an der Berichterstattung im «Fall Carlos» geübt wurde, hat unter Journalist:innen offenbar kein Umdenken stattgefunden. Wie bereits zehn Jahre zuvor sprangen diverse Medien erneut auf den Empörungszug auf, darunter der «Blick», «20 Minuten» und «Watson».
Konstruiertes Interesse
Auch in den Kommentarspalten ist man sich weitgehend einig. Einige kritisieren zwar die Berichterstattung, doch die meisten fordern wahlweise eine lebenslange Verwahrung, die Abschiebung oder gar Kellers Tod. Sicher lässt sich argumentieren, es bestehe ein öffentliches Interesse am Fall. Doch dieses entstand nicht auf natürliche Weise: Es wurde und wird konstruiert. Und wer sich auf den Standpunkt stellt, Keller sei selbst schuld an den Reaktionen, er habe diese Aufmerksamkeit geradezu gesucht, dem sei ans Herz gelegt, was er am Tag seiner Freilassung zur Presse sagte: «Ich bin nicht darauf vorbereitet. Ich wurde gerade aus der Haft entlassen und wurde keinen Tag auf die anderen Menschen vorbereitet.»
Kommentare
Kommentar von Jan Holler
Sa., 27.01.2024 - 08:09
Der Mann selber scheint ebenso unbelehrbar zu sein. Mir scheint die Darstellung auch etwas zu vereinfachend und zu oft wiederholt, den Medien und der Gesellschaft die (hauptsächliche) Schuld oder Verantwortung für sein Verhalten zu geben. Es ist auch kein "Fehltritt", wenn einer mit einem Messer droht. Diese verharmlosende Sprache ist ebenso irrig, wie das Aufbauschen.
Man kann auch von einem B.K. fordern, dass er an sich selber arbeitet, nicht droht, sich einigermassen anständig verhält, sich eine Arbeit sucht und endlich Ruhe gibt.