Der Fall Brian: Weit jenseits der roten Linie

Nr. 24 –

Überreaktion, Willkür, extreme Repression: Die Behörden haben im Fall Brian masslos versagt. Selbst der Uno-Sonderberichterstatter für Folter erhebt schwere Vorwürfe. Dennoch: Brian ist erneut verurteilt worden – verwahrt wird er allerdings nicht.

Thaiboxkurse für einen jugendlichen Straftäter? Das empört jene, die sich gerne empören: Szene aus dem SRF-Film «Reporter: Der Jugendanwalt» vom August 2013. Quelle: SRF Play; Bearbeitung: WOZ

Die Geschichte von Brian, vormals bekannt als «Carlos», wird gerne so erzählt: Er habe viele Chancen erhalten und keine genutzt. Schon als Kind renitent, habe er als jugendlicher Messerstecher die «Kuscheljustiz» verhöhnt – bis sich die Öffentlichkeit Gerechtigkeit verschaffte. Brian sitzt inzwischen in der Strafanstalt Pöschwies in Sicherheitshaft. Dass er dort randaliert, wird als weiterer Beweis für seine Unberechenbarkeit gewertet. So sagte Staatsanwalt Ulrich Krättli zum Auftakt des aktuellen Berufungsprozesses: «Der Tunnel, in den er sich begeben hat, ist nicht nur rabenschwarz, sondern auch unendlich lange.» Kein Therapeut, nur er selbst könne den Ausweg daraus schaffen – und vielleicht irgendwann wieder auf freien Fuss kommen. «Für so einen Extremfall, renitent, aggressiv und gewaltbereit, bleibt nur die Verwahrung übrig.»

Soll Brian also für immer weggesperrt werden, oder erhält er eine letzte Chance? Um diese Frage drehte sich bis Mittwoch dieser Woche der Berufungsprozess am Zürcher Obergericht. Für Delikte hinter Gittern, die Brian vorgeworfen werden – unter anderem versuchte schwere Körperverletzung –, forderte die Staatsanwaltschaft siebeneinhalb Jahre Gefängnis und die ordentliche Verwahrung. Brians Anwälte auf der anderen Seite kämpften für einen Freispruch. Sie argumentierten, Brians Aggressionen müssten als Gegenwehr gewertet werden. Und das Gericht fällte ein überraschendes Urteil: Es sprach den 25-Jährigen zwar nicht frei, will ihn aber auch nicht verwahren. Im Gegensatz zur Vorinstanz, die ihn zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und neun Monaten, aufgeschoben zugunsten einer kleinen Verwahrung, verurteilt hatte, verhängte das Obergericht eine Gefängnisstrafe von sechs Jahren und vier Monaten – ganz ohne Verwahrung.

Das Urteil wirft die unbequeme Frage auf: Wie einfach haben es sich Justiz und Gesellschaft bislang mit der Erzählung vom nicht resozialisierbaren Intensivtäter gemacht?

Überforderung

Zum ersten Mal verhaftet wird Brian als Zehnjähriger, als man ihn fälschlicherweise der Brandstiftung beschuldigt. Brian verbringt einen Tag im Gefängnis auf dem Zürcher Kasernenareal und fast zwei Monate in geschlossenen Einrichtungen. Als er zwölf ist, steckt man ihn acht Monate lang in Isolationshaft, 23 Stunden am Tag sitzt er in Erwachsenengefängnissen allein in seiner Zelle. Als Grund für die Inhaftierung im Rahmen einer fürsorgerischen Unterbringung werden «fehlende Alternativen», oder sein «eigener Schutz» genannt. Sein Anwalt Bernard Rambert sagt: «Dass man ein Kind wegen erzieherischer Vorfälle ins Gefängnis wegsperrt, habe ich sonst noch nie erlebt, es ist mir unerklärlich.»

Brian wächst mit einem Schweizer Vater und einer kamerunischen Mutter in Zürich auf. Gemäss dem Onlinemagazin «Republik», das Brians Kindheit in der Serie «Am Limit» aufgearbeitet hat, berichten psychiatrische Gutachten von «unhaltbaren, chaotischen Zuständen in der Familie» und von einer «strukturellen und emotionalen Verwahrlosung des Kindes». Brians Vater bestreitet dies, räumt jedoch ein: Es habe unter anderem wegen finanzieller Schwierigkeiten und weil sich die Mutter in der Schweiz nur schwer akklimatisiert habe, viel Druck gegeben, «und sicher, aus dieser Situation heraus gab es auch in der Beziehung zu Brian Schwierigkeiten».

Brian wird früh straffällig. Es handelt sich um typische Jugenddelikte: Verstösse gegen das Betäubungsmittelgesetz, Sachbeschädigung, einfache Körperverletzung: 34 kleinere Delikte soll Brian zwischen seinem 10. und 15. Lebensjahr begangen haben. Der Jugendliche revoltiert, die Staatsgewalt reagiert mit maximaler Härte: Sein Vater erzählt von einem Vorfall, als Brian noch sehr jung gewesen sei: «Er schoss mit einem Luftgewehr auf das Fenster der Nachbarn, da sind sie mit der Spezialeinheit eingefahren, haben ihn brutal auf den Boden gedrückt und in Handschellen gelegt.»

Es ist eine Eskalationsspirale aus Überforderung, Bestrafung, Gegenwehr. Die Behörden schrauben hilflos an der Repressionsschraube: Fremdplatzierungen, Aufenthalte in geschlossenen Abteilungen, Time-outs, Gefängnis, Schulverbot. Für Zugeständnisse soll sich Brian bewähren, begehrt er auf, werden die Schrauben angezogen. Sein Vater sagt: «Er reagiert heftig, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt.»

Im Juni 2011, im Alter von fünfzehn Jahren, begeht Brian seine bisher schwerste Tat: Er sticht einem Achtzehnjährigen nach einem kurzen verbalen Streit zweimal mit dem Messer in den Rücken. Dafür wird er zu einer neunmonatigen Freiheitsstrafe verurteilt. Brian verbringt sie mehrheitlich in Einzelhaft. Zwei Suizidversuche begeht er in dieser Zeit, in der Psychiatrischen Universitätsklinik wird Brian während vierzehn Tagen zwangsfixiert.

Willkür

Ein schwarzer, muskulöser Rücken, Schweissperlen. Brian beim Thaiboxen. Diese Bilder flimmern am 25. August 2013 im Rahmen des SRF-«DOK»-Films «Der Jugendanwalt» über die Schweizer Bildschirme. Auch ein «Blick»-Journalist schaut zu. Zwei Tage später titelt das Boulevardblatt: «Sozial-Wahn! Zürcher Jugend-Anwalt zahlt Messerstecher (17) Privatlehrer, 4½-Zimmer-Wohnung und Thaibox-Kurse. Kosten: 22 000 Fr. pro Monat.»

Der Dokfilm widmet sich dem Lebenswerk von Jugendanwalt Hansueli Gürber, der kurz vor der Pensionierung steht. Brian tritt im Film auf, obwohl ihm seine Anwälte davon abgeraten haben. Gürber hat ihm das Sondersetting auch auf Druck des Bundesgerichts eingerichtet, das die Zürcher Behörden anhielt, «eine geeignete erzieherisch-therapeutische Massnahme-Einrichtung» zu finden. Die enge Betreuung und der Fokus auf körperliche Betätigung sind eine Abkehr vom Weg der maximalen Härte, und es funktioniert.

Niemand weiss, wie sich Brian entwickelt hätte, wenn er diesen Weg hätte weitergehen können. Gesagt werden kann aber: Zum Zeitpunkt der «DOK»-Ausstrahlung ist «Carlos», wie er im Film genannt wird, dreizehn Monate deliktfrei, er bewährt sich. In einem Bericht der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft ist festgehalten: «Es sind Fortschritte im Verhalten feststellbar: Verzicht auf Alkohol und Nikotin. Vermehrt Verantwortungsübernahme im Haushalt und Freude am Kochen; Beziehungsaufbau zu den Eltern; Aufbau eines neuen Freundeskreises; schulische Fortschritte, Wille zum Lernen …». Sein Vater sagt: «Es war super, wir waren an den Wochenenden immer bei ihm in der Wohnung, die Situation entspannte sich.»

Es folgt eine Geschichte von beispielloser Rückgratlosigkeit. Statt dem Boulevard entgegenzutreten, das Sondersetting zu begründen, den Sturm vorbeiziehen zu lassen, retten im «Fall Carlos» die Verantwortlichen ihre eigene Haut. Das Versagen von Politik und Justiz hat das «Magazin» 2014 im Text «Der Verrat» nachgezeichnet. Die Kurzfassung geht so: Nach einer wochenlangen, vom «Blick» angeführten Medienkampagne verlegt die Jugendanwaltschaft Brian, der sich im Sondersetting nichts hat zuschulden kommen lassen, ins Gefängnis. Jugendanwalt Hansueli Gürber, der im «Blick» als «Verhätschler» verhöhnt wird, wird von seinen Vorgesetzten fallen gelassen. Der damalige grüne Regierungsrat Martin Graf und Oberjugendanwalt Marcel Riesen-Kupper verpassen ihm einen Maulkorb und distanzieren sich öffentlich von Gürber und seinen Methoden. Der Machterhalt geht auf Kosten von Brian.

Er sitzt nach dem Abbruch der Massnahme 83 Tage im Gefängnis Limmattal. In Einzelhaft. Weitere 90 Tage verbringt der Jugendliche in der geschlossenen Abteilung des Massnahmenzentrums Uitikon.

Statt der Strafvergeltung stehen im Schweizer Jugendstrafrecht Erziehung und Schutz im Vordergrund. Dieses Prinzip wird in den Jahren vor dem «Fall Carlos» von rechts angegriffen, das Land führt eine überhitzte Debatte um jugendliche Straftäter, «Kuscheljustiz» und «Integrationsprobleme». Brian ist zur Verkörperung der herbeigeschriebenen Fehlentwicklungen geworden, auf seinem Rücken trägt das Land fortan den Empörungsdiskurs aus.

Ein halbes Jahr nach dem Abbruch des Sondersettings pfeift das Bundesgericht den Kanton zurück: Die Inhaftierung von Brian sei nur aufgrund des öffentlichen Drucks erfolgt und damit widerrechtlich. Justizdirektor Martin Graf und die Oberjugendanwaltschaft hätten willkürlich gehandelt. Brian muss wieder in ein Sondersetting verlegt werden. Boxtraining erhält er nicht mehr.

Trauma

Strafrechtsprofessor und SP-Ständerat Daniel Jositsch hat es damals am treffendsten gesagt: «An diesem Achtzehnjährigen wird vorgeführt, dass sich die Gesellschaft selber so verhält, wie man ihm vorwirft, sich zu verhalten – unberechenbar, willkürlich, aggressiv.»

Mit neunzehn, zu diesem Zeitpunkt ist Brian nach Abbruch des zweiten Sondersettings seit gut einem Jahr auf freiem Fuss, wird er zum zweiten Mal falsch verdächtigt und von der Strasse weg verhaftet. Er soll einen Mann mit einem Messer bedroht haben. Sechs Monate sitzt er deswegen in Untersuchungshaft. Wieder: Isolation, 23 Stunden am Tag. Brian wird schliesslich freigesprochen und für die Haft mit 100 Franken pro Hafttag entschädigt, weil auf den Überwachungskameras kein Messer zu sehen ist.

Dann folgt der März 2016. Brian hat seit fünf Jahren kein Delikt mehr begangen, abgesehen von einem Vandalenakt in der Zelle nach dem Abbruch des Sondersettings. Nun verpasst er im Tram einem Bekannten nach einer Auseinandersetzung einen Faustschlag. Kieferbruch. Brian kommt in Untersuchungshaft, wird wegen versuchter schwerer Körperverletzung zu achtzehn Monaten Haft verurteilt. Damit beginnt eine Odyssee durch die Gefängnisse dieses Landes: Pöschwies, Lenzburg, Thorberg, Limmattal, Winterthur, Burgdorf, Pfäffikon. Meist in Einzelhaft.

In der Zelle sitzt ein junger Mann im Kampfmodus, der Therapeuten, Aufseher, den Staat als seine Feinde betrachtet, sie beschimpft, bespuckt, bedroht. Ihm gegenüber steht ein hochgerüsteter Gefängnisapparat, der auf Brians Wut und Aggression mit brutalen Repressalien reagiert. Im Gefängnis Pfäffikon muss Brian Anfang 2017 während fast drei Wochen auf dem nackten Boden der unterkühlten Zelle schlafen, nur mit einem Poncho bekleidet, ohne Unterwäsche. Er darf nicht duschen und sich auch tagelang nicht die Zähne putzen. Er trägt drei Wochen lang ununterbrochen Fussfesseln, und der Hofgang wird ihm verweigert. Das Bezirksgericht Zürich hat inzwischen geurteilt, dass diese Behandlung menschenunwürdig gewesen sei.

Folter

Brian berichtet in seinem Gefängnistagebuch von rassistischen Beschimpfungen und Angriffen durch die Aufseher, diese wiederum bringen immer wieder Vorfälle zur Anzeige, auch Brian hat in zwei Fällen Anzeige wegen Körperverletzung erstattet. Das Ereignis, das den schwersten Tatvorwurf gegen Brian nach sich zieht – schwere Körperverletzung –, passiert im Juni 2017, nur drei Monate vor seiner geplanten Haftentlassung: Brian wird in einem Büro der Pöschwies mitgeteilt, dass er nach einer Phase des Gruppenvollzugs «zu seiner eigenen Sicherheit» wieder in Einzelhaft müsse. Der Inhaftierte schleudert daraufhin einen Stuhl gegen die Wand, es kommt zu einer Rangelei mit den anwesenden Polizisten. Ab hier gehen die Schilderungen auseinander: Ein Polizist berichtet von zwei gezielten, harten Faustschlägen gegen ihn. Brian bestreitet dies.

Seit August 2018, also seit bald drei Jahren, sitzt Brian ununterbrochen in der Pöschwies in Isolationshaft. Familienbesuche und ärztliche Untersuchungen finden nur hinter Glas statt, bei Hofspaziergängen ist er gefesselt. Die Auswirkungen einer solchen Isolation auf die Psyche sind drastisch. Langzeit-Einzelhaft über fünfzehn Tage hinaus wird sowohl durch die Mindestgrundsätze der Vereinten Nationen für die Behandlung der Gefangenen (Nelson-Mandela-Regeln) als auch die europäischen Gefängnisregeln verboten.

Brians Haftbedingungen kämen der Folter gleich, sagen Brians Anwälte. Und sie werden von hoher Stelle gestützt: Der auf den Fall angesetzte Uno-Sonderberichterstatter für Folter, Nils Melzer, liess am Montag in einer Pressemitteilung verlauten: «Ich bin ernsthaft besorgt, dass die Art und Weise, wie die Schweiz Brian K. behandelt, gegen die Antifolter-Konvention verstösst und nicht mit geltenden Menschenrechtsstandards in Einklang gebracht werden kann.»

Melzer besucht seit vielen Jahren GefängnisinsassInnen auf der ganzen Welt, seit 2016 als Uno-Sonderberichterstatter für Folter, davor während zwölf Jahren als Delegierter für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Der Sonderberichterstatter hat bei Aussenminister Ignazio Cassis interveniert: Er verlangt vom Bundesrat ein sofortiges Ende von Brians Isolationshaft sowie eine unabhängige Untersuchung seiner Behandlung, «insbesondere auch darüber, warum er unter die direkte Aufsicht derselben Gefängniswärter gestellt ist, die er wegen Körperverletzung angezeigt hat».

Auf die Justiz hat Melzer keinen direkten Einfluss. Doch sagt er gegenüber der WOZ: «Es ging darum, die Richter noch vor der Urteilsfindung an die roten Linien des Folter- und Misshandlungsverbots zu erinnern, die die Schweiz als Uno-Mitglied schliesslich mitträgt. Mit der jahrelangen Isolation sind wir im Moment jenseits der roten Linie, und zwar weit jenseits.» Für Melzer wurde der Fall Brian zur selbsterfüllenden Prophezeiung: «Er hat eine Verhaltensstörung, ist impulsiv. Mit der extrem repressiven Behandlung verstärkt man dieses Verhalten und ist dann erstaunt, wenn er, kaum schnappt er etwas Luft, beim ersten Anlass wieder ausrastet.» Der Sonderbeauftragte kritisiert auch die voreingenommene öffentliche Wahrnehmung: «Wer hier der Böse ist, ist bei der Auseinandersetzung zwischen Brian und den Aufsehern immer bereits von vornherein klar.» Das sei das Resultat einer Dämonisierungsspirale. «Man hat einen Hannibal Lecter aus ihm gemacht.»

Melzers Intervention bei Cassis hat keine bindende Wirkung: Der Bundesrat hat zwei Monate Zeit für eine Stellungnahme, die dann zusammen mit Melzers Intervention auf der Website des Hochkommissariats für Menschenrechte publiziert wird. Doch hofft der Folterexperte, dass «nun die Mechanismen der Schweiz greifen» und Brians Haftbedingungen erleichtert werden. Ein erster Erfolg seiner Intervention ist, dass das Zürcher Amt für Justizvollzug die Kommission zur Verhütung von Folter gebeten hat, die Situation zu untersuchen.

«Angst, Grübeln, Panikattacken, Aggression, Paranoia und psychotische Symptome sowie das posttraumatische Stresssyndrom – sogenannte Flashbacks, chronische erhöhte Wachsamkeit, Rückzugstendenz und ein überwältigendes Gefühl von Hoffnungslosigkeit.» So beschreibt der Psychiater Ralf Binswanger die grundlegendsten Auswirkungen der Isolationshaft. Zum spezifischen Fall schreibt der Experte: Aufgrund seines ADHS habe Brian schon zeitlebens einen starken Reizhunger. «Er war immer körperlich aktiv (…) und bewies beispielsweise im Sondersetting, dass intensive und systematische körperliche Betätigung geeignet war, einen seelischen Gleichgewichtszustand herzustellen, der ohne diese Betätigung für ihn nur schwer oder gar nicht erreichbar war.»

Binswanger schreibt weiter: Brians «optimale Reizvariabilität» werde auf das für ihn schädlichste Mass reduziert. «Diese Methode ist in hohem Masse geeignet, seine psychische Identität zu zerstören.»

Brians Anwälte prüfen, ob sie das Urteil des Zürcher Obergerichts weiterziehen.