Erzählungen: Nicht zu Hause in der Welt

Nr. 4 –

In «Der Fluss und das Meer» erzählt Natascha Wodin in fünf Geschichten vom Verloren- und Fremdsein – und wieder vom Suizid ihrer Mutter.

Als Natascha Wodin 2017 für «Sie kam aus Mariupol» mit dem Leipziger Buchpreis geehrt wurde, war diese Stadt hierzulande nahezu unbekannt. Die Autorin begab sich auf Spurensuche nach ihrer Mutter, von der sie nur wusste, dass sie aus dieser ukrainischen Stadt als Zwangsarbeiterin nach Nazideutschland gekommen war.

In der Erzählung «Der Fluss und das Meer», die dem vor kurzem erschienenen Erzählband den Titel gibt, begegnen wir dieser Stadt wieder. Schon in den dreissiger Jahren, so erfahren wir, war Mariupol eine kaputte Stadt, beschädigt vom Ersten Weltkrieg, die Bevölkerung dezimiert vom Holodomor, der von Josef Stalin verursachten Hungersnot, und das Asowsche Meer verseucht vom riesigen Stahlwerk, das – wie die gesamte Stadt – im aktuellen Krieg zum dritten Mal zerstört wurde. Und noch einmal erzählt Wodin von ihrem Trauma: dem Suizid der Mutter, die sich 1955 in einem kleinen Fluss in Franken ertränkte, als Natascha erst zehn Jahre alt war.

Vom eigenen Erlebten aus erzählen

Fünf Erzählungen enthält Wodins neues Buch; sie stammen aus unterschiedlichen Zeiten. «Das Singen der Fische» und «Nachbarinnen» wurden schon 2001 das erste Mal veröffentlicht. Jetzt zeigen sie in überarbeiteter Form wieder die grosse Kunst der Autorin, psychologische Abgründe zu beschreiben. Meist geht sie von eigenem Erleben aus: von ihrer schrecklichen Jugend in den «Russenhäusern», einem Ghetto ehemaliger Zwangsarbeiter:innen, und von ihrem fast unbegreiflichen Aufstieg zur Schriftstellerin. Allerdings brauchte sie Zeit, innerlich in der Welt des Literaturbetriebs anzukommen. Davon handeln die Texte dieses Buchs: vom Gefühl des Nichtdazugehörens, vom Zwang der Anpassung, von der Angst, aus der neuen Normalität wieder herauszufallen.

In «Nachbarinnen» blickt die Ich-Erzählerin aus einer Wohnung unter dem Dach eines bürgerlichen Einfamilienhauses schreckgebannt auf ein verfallenes Anwesen, wo eine verwahrloste Frau lebt. Diese Frau adressiert sie als Spiegel ihrer selbst; so hätte auch sie werden können, wie sie sich im inneren Zwiegespräch vergegenwärtigt: «Sie waren der tägliche Anblick des Abschaums, den ich gerade von mir abgestreift hatte, Sie waren das Gespenst meiner Vergangenheit, das mir auf die andere Seite der Welt gefolgt war, Sie waren mein veröffentlichtes Geheimnis, das ich in ständiger Angst vor Entlarvung verbarg.»

Als nicht aufhörenden Albtraum erlebt eine junge Frau in «Das Singen der Fische» einen Aufenthalt in Sri Lanka. Mit ihrem Freund und dessen Schwester ist sie aufgebrochen, um endlich die verlockende Ferne kennenzulernen. Aber schon die erste Begegnung mit einem Bettler erschüttert ihr Weltgefühl zutiefst. Verloren irrt sie durch die fremde Umwelt und befürchtet, nie wieder in der Realität ihres Lebens in Deutschland anzukommen.

Ein einziger Überlebenskampf

Die Protagonistinnen von Wodins Erzählungen fühlen sich nicht zu Hause in der Welt; oft leben sie in halb verfallenen Häusern. In der neusten Geschichte, «Les Sables-d’Olonne», die mit dem Ort im Titel nur am Rand zu tun hat, wohnt die Ich-Erzählerin in einem unfertig renovierten Winzerhaus im Pfälzischen, wo sie meistens im Innenhof sitzt, verborgen vor den Blicken ihrer Mitmenschen. Sie sinnt über ihre Angst nach, die viele Jahre ihres Lebens überschattet hat und der sie oft mit irrationalem Verhalten, aber stets mit bewundernswerter Kraft die Stirn geboten hat. In ihren Träumen sucht sie einen Schlüssel, eine Telefonnummer oder – am schlimmsten – ihre Wohnung. Auch nach dem Erwachen ist sie noch im «geträumten Gefühl der Verlorenheit» gefangen; «ich denke über mein völlig verfehltes, in irgendeinem grandiosen Irrtum verfangenes Leben nach, ich suche einen Ort, eine Wohnung in meinem Inneren, aber da ist nur Wüste …»

Die Erzählung «Notturno», 2011 erstmals erschienen, mutet wie ein Ausflug in die Schwarze Romantik an, mit Franz Schuberts Musik in der Hauptrolle. Durch sie fühlt sich die Protagonistin mit einem ihr unbekannten Mann verbunden, der weit entfernt in einer psychiatrischen Anstalt lebt. Sie schreiben sich Briefe, weil sie in der gleichen Stadt aufgewachsen sind. Gegenseitige Projektionen beflügeln eine Liebe in Worten und Tönen, und während die Ich-Erzählerin in einem verfallenen Herrenhaus in einem ostdeutschen Wald erlebt, wie der Sommer zu Ende geht und die Herbststürme einsetzen, träumt sie von einer Zukunft mit dem Menschen, der für sie bestimmt scheint. Je mehr die Leser:innen ahnen, dass das nicht gut gehen kann, desto grösser wird die Spannung – ein abgründiger Psychothriller.

In einem Radiointerview erzählte Natascha Wodin, dass sie als Jugendliche eine grosse Kraft hatte, denn ihre Existenz war ein einziger Überlebenskampf. Eine Anstellung als Telefonistin rettete sie aus ihrer Obdachlosigkeit. Sie wurde Stenotypistin, konnte ihre Russischkenntnisse als Dolmetscherin und Übersetzerin einsetzen, bis sie schliesslich zu schreiben begann. Aber statt ihren Erfolg geniessen zu können, brach sie in dem Moment zusammen, «als ich verstand, was ich für eine Geschichte hatte». Von dieser Krisensituation handeln die Texte des neuen Erzählbands.

Buchcover von «Der Fluss und das Meer»
Natascha Wodin: «Der Fluss und das Meer». Erzählungen. Rowohlt Verlag. Hamburg 2023. 192 Seiten. 34 Franken.