Geflüchtete In Griechenland: Kein Ort zum Bleiben
Eine abgenutzte Matratze für teures Geld: Von der Not Geflüchteter profitieren in Athen jene, die über Wohnraum verfügen. Doch die meisten wollen ohnehin weiter nach Zentraleuropa. So wie Sahel, der vom Showbusiness träumt.
Sahel wirkt erschöpft, wenn er seine Geschichte erzählt. Der 23-jährige Afghane aus der nördlichen Provinz Kundus kam Ende September in Athen an. Es war sein dritter Versuch – oder wie Geflüchtete ihre Flucht mittels Schleppern mitunter bezeichnen: sein drittes «Game».
Mit einem Spiel haben die gefährlichen Wege nach Griechenland oder Italien wenig gemein. Vielmehr handelt es sich meist um Todeszonen – nicht nur, weil natürliche Begebenheiten die Reise zu Wasser und zu Land erschweren, sondern vor allem auch wegen der Militarisierung des europäischen Grenzregimes. Bewaffnete und mit Drohnen und Wärmebildkameras ausgestattete Grenzwächter:innen verantworten regelmässig brutale Pushbacks, die mit Leid und Tod enden.
«Viele versuchen es so oft, bis es klappt. Für Alleinreisende wie mich ist es einfacher. Familien, Frauen und Kinder, die mit meiner Gruppe unterwegs waren, wurden hingegen erwischt und misshandelt», sagt Sahel, der seinen Nachnamen aus Angst vor den Behörden nicht nennen will. Entlang des Evros, des Flusses, der die natürliche Grenze zwischen Griechenland und der Türkei bildet, gelangte er mit einigen anderen Afghan:innen nach Europa. Rund 2500 Euro pro Kopf kostete die Reise – und vorbei ist sie noch lange nicht. «Ich kann mir hier dauerhaft keine Zukunft vorstellen. Es gibt hier nichts», resümiert der junge Mann nüchtern.
Lukrativer Schlafraum
Dass Sahel so denkt, ist nicht verwunderlich. In Griechenland existieren keine Strukturen, die Geflüchtete auffangen. Viele Menschen aus Afghanistan, Syrien und anderen Staaten bleiben undokumentiert, sind obdachlos und leben mal hier, mal da. Ihre Not wird oft von jenen ausgenutzt, die über Wohnraum verfügen – dazu gehören auch Afghan:innen, die sich schon länger in Griechenland aufhalten. Gegenwärtig lebt Sahel mit zwölf weiteren Geflüchteten in einer Dreizimmerwohnung nahe dem Viktoriaplatz. Für eine abgenutzte Matratze am Boden verlangt der Vermieter sieben Euro pro Nacht.
In den letzten Jahren wurde die Gegend rund um den Platz, der nur wenige Kilometer von der Akropolis entfernt liegt, immer wieder zum Brennpunkt. 2015, während des grossen Flüchtlingstrecks, war er gefüllt mit Tausenden obdachlosen Geflüchteten, die neu auf dem europäischen Festland angekommen waren und in den Asylzentren nicht mehr aufgenommen wurden.
Obdachlose gibt es am Viktoriaplatz weiterhin, doch im Vergleich zu früher ist ihre Zahl zurückgegangen. Dass die Situation nicht mehr so dramatisch ist, hat mehrere Gründe. Zum einen sind viele mit der Hoffnung auf ein besseres Leben in Zentraleuropa weitergezogen. Zum anderen hat die Anzahl illegaler Übernachtungsmöglichkeiten zugenommen. Afghanische Geflüchtete wie Sahel finden diese meist über Mundpropaganda.
Wichtig sind dafür Treffpunkte wie das «Herat», ein afghanisches Restaurant in der Gegend. «Ich bin gestern gekommen. Weisst du, was ich nun machen soll?», murmelt ein Geflüchteter auf Paschtu während eines Gesprächs mit einem anderen jungen Afghanen. «Ich suche eine Wohnung für mich und meine Familie», erklärt hingegen Amanullah Mohammadi, 28 Jahre alt. Gemeinsam mit Frau, Kind und Tante kam er erst vor wenigen Stunden an. Der Keller des «Herat» wurde längst zum lukrativen Schlafraum umfunktioniert, in dem bis zu dreissig Personen pro Nacht unterkommen.
Kurse und Safe Spaces
«Dass die meisten Geflüchteten hier nur durchziehen, sollte niemanden überraschen. Vor allem jene, die nicht erst auf den Inseln, sondern direkt in Athen ankommen, sind den Realitäten der Stadt ausgesetzt», sagt Liska Bernet. Die Schweizerin leitet die NGO Glocal Roots, deren Büros sich im Victoria Community Center befinden, einer Anlaufstelle für alle Angekommenen, wo Essens- und Getränkemarken verteilt sowie rechtliche Beratung und verschiedene Tagesprogramme angeboten werden.
Seit zehn Jahren ist Bernet an den europäischen Aussengrenzen tätig. Die Flucht- und Migrationsdebatten in der Schweiz und den EU-Staaten sind für sie ein Armutszeugnis, sie hätten mit den Realitäten vor Ort wenig zu tun. «Solange Fluchtursachen nicht anerkannt und effektiv bekämpft werden, wird sich auch nichts ändern», sagt sie. Bernet kann sich noch gut an Geflüchtete erinnern, die wenige Monate nachdem sie in ihr Heimatland deportiert worden waren, wieder am Viktoriaplatz standen.
In Athen gibt es wohl kaum jemanden, der besser versteht, was Bernet meint, als Nasim Lomani. Vor zwanzig Jahren kam der Afghane in Griechenland an – und blieb. Er lernte Griechisch, begann als Dolmetscher zu arbeiten und sich für die Rechte Geflüchteter einzusetzen. 2016 besetzte Lomani mit anderen Aktivist:innen ein leer stehendes Hotel nahe dem Viktoriaplatz, um Wohnmöglichkeiten für 400 Geflüchtete zu erzwingen.
«Niemand verlässt gerne seine Heimat. Doch solange es Gründe für die Flucht gibt, werden auch neue Möglichkeiten und Routen geschaffen werden. Dieser Kreislauf lässt sich mit der aktuellen Politik nicht einfach durchbrechen», sagt Lomani. Er verweist dabei nicht nur auf den Krieg in seiner afghanischen Heimat, sondern auch auf die aktuelle Situation im Nahen Osten. «Achtzig Prozent der Leute, die in den letzten Monaten etwa auf Kos angekommen sind, stammen aus Gaza. Das wird so weitergehen, wenn das Massaker und die Vertreibungen dort nicht beendet werden.»
Ähnlich sieht das auch Lomanis Verlobte Hana Ganji, die mit ihm zuletzt nach Lesbos reiste, um die Lage vor Ort in Augenschein zu nehmen. Sie ist Mitgründerin der NGO Hidden Goddess, die vor allem geflüchteten Frauen Safe Spaces und verschiedene Kurse anbietet. «Wir wollten, dass Geflüchtete Geflüchteten helfen, weil wir selbst am besten wissen, welchen Problemen und Traumata sie ausgesetzt sind. Uns geht es in erster Linie um Integration und konstruktive Arbeit», erklärt Ganji. Mit ihren Kolleginnen versucht sie, die Angekommenen aufzufangen. «Hauptsache, weg von der Strasse.»
Hinzu komme, so Lomani, dass rechte Politiker:innen keine Lösungen anböten. «Insgesamt gibt es in Griechenland heute weniger Geflüchtete als früher. Wirtschaftliche, soziale und infrastrukturelle Probleme, für die manche sie verantwortlich machten, sind geblieben. In anderen europäischen Staaten, die sich nun abschotten wollen, wird Ähnliches der Fall sein», sagt er.
Auch auf Inseln wie Lesbos, Samos oder Chios sei die Lage ruhiger. Doch all dies ist kein Grund zum Beschönigen: Die Anzahl der Pushbacks ist in den letzten Monaten gestiegen. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch kritisieren die illegale behördliche Praxis seit Jahren. Vorfälle wie das Schiffsunglück vor Pylos im Juni 2023, bei dem mehrere Hundert Flüchtende ums Leben kamen (siehe WOZ Nr. 20/24), werden dabei als Teil von Griechenlands systematischer Pushbackpolitik gewertet.
Alles andere als ruhig
Die Angst vor dieser Gewalt sucht Sahel bis heute heim. Sie war da, als er versuchte, nach Griechenland zu gelangen, und sie ist auch präsent, während er durch Athen spaziert. Wie die meisten Geflüchteten dort ist auch er undokumentiert, während Polizeistreifen umherschwirren. Seine grösste Sorge: dass ihn Beamt:innen aufgreifen und monatelang in eines der berüchtigten Asylzentren sperren. «Die Zustände dort sind katastrophal», sagt auch Liska Bernet von Glocal Roots.
«Ich möchte keine Probleme mit dem Gesetz und mir etwas aufbauen», sagt Sahel. In seiner Zeit in der Türkei arbeitete er illegal auf dem Bau, während er abends seiner Leidenschaft nachging: Der Comedian mit mehreren Tausend Follower:innen auf Tiktok produzierte Content für seinen eigenen Kanal auf der Plattform. «Mit dem Geld, das über Tiktok reinkam, konnte ich mir einen Teil meiner Flucht leisten», sagt er heute stolz. Es ist das grosse Showbusiness, von dem Sahel weiterhin träumt. «Irgendwann», sprich: nach seiner Reise, will er sich allein darauf konzentrieren, noch berühmter zu werden. Wenn er irgendwo angekommen ist, wo er in Ruhe leben kann.
Alles andere als ruhig ist seine Heimat. «In Afghanistan hätte ich nicht nur mit den Taliban Probleme. Weil ich in meinen Sketchen manchmal Frauenkleidung anlege, werde ich regelmässig bedroht», so Sahel. Seit der Rückkehr der militant-islamistischen Taliban an die Macht im August 2021 haben zahlreiche bekannte Medienpersönlichkeiten, darunter Sängerinnen, Moderatoren, Journalistinnen, Musiker und Comedians, das Land verlassen.
Seither haben die Repressalien des Regimes immer mehr zugenommen. Es gibt Arbeits- und Bildungsverbote in zahlreichen Branchen, und auch die Unterhaltungs- und die Medienindustrie sind betroffen. «Es darf keine Musik mehr gespielt werden. Hochzeiten sind wie Beerdigungen. Sportarten werden eingeschränkt, und sogar Social Media sollen bald verboten werden», sagt Sahel empört. «Die Taliban können dieses Afghanistan gerne für sich haben, aber für mich und viele andere junge Menschen gibt es dort keinen Platz mehr.»