Solothurner Filmtage: Filme wie Balsam

Nr. 4 –

Wie erzählt das Kino vom Widerstand, ohne ihn zu glorifizieren? Eine Debatte um drei Dokumentarfilme in Solothurn fand keine abschliessenden Antworten – und war dennoch erhellend.

Still aus dem Film «Swissair Flug 100»
Erst kurz vor dem Terrorangriff der Hamas auf Israel fertig geschnitten: Szene aus «Swissair Flug 100» über eine Flugzeugentführung im September 1970. Still: HOOK Film

Fünfzig Jahre nach der Entführung einer Swissair-Maschine durch militante Palästinenser:innen am 6. September 1970 erinnert sich eine der Schweizer Geiseln an ein Gespräch mit einer Fedajin-Kämpferin, von der sie damals bewacht wurde: «Sie sagte: ‹Ich habe Familie und will, dass meine Kinder mal ein eigenes Land haben.› Und das konnte ich verstehen, ich habe auch zwei Kinder.» Man könne verurteilen, wie die Entführer:innen gehandelt hätten, sagt die damalige Stewardess bei einer Zusammenkunft der ehemaligen Geiseln am 6. September 2020. Aber angesichts der politischen Situation sei es doch ein Drama, «dass die heute noch kein Land haben». Der Saal applaudiert.

Die Szene vom Jahrestag der Entführung ist jetzt in Adrian Winklers Dokumentarfilm «Swissair Flug 100 – Geiseldrama in der Wüste» zu sehen, aber der Applaus nach dem Statement fehlt im Film, wie Produzent Laurin Merz an den Solothurner Filmtagen erklärt. Am 6. Oktober 2023 sei der Film fertig geschnitten gewesen. Danach hätten sie innerhalb von zwei Tagen entscheiden müssen, ob und wie sie die Geschichte unter den neuen Vorzeichen anders erzählen sollten. «Den Applaus schnitten wir schlussendlich raus. Wer weiss, ob die Leute diesen Aussagen heute noch zustimmen würden?»

Wie erzählt das Kino vom Widerstand, ohne ihn pauschal zu glorifizieren? Das ist die Frage, die Filmtage-Direktor Niccolò Castelli zum Auftakt seiner Gesprächsreihe «Fare Cinema» stellt. Der journalistisch gefärbte «Swissair Flug 100», der durch Interviews mit ehemaligen Geiseln, IKRK-Unterhändlern und Expert:innen die Entführung von 1970 rekonstruiert, ist einer von drei Filmen, über die Castelli im Restaurant Kreuz mit deren Macher:innen diskutiert. Die zwei anderen Werke haben einen philosophischeren Zugang zum Thema: «La scomparsa di Bruno Breguet» von Olmo Cerri ist eine Spurensuche rund um die spektakuläre Geschichte des Tessiners Bruno Breguet, der sich 1970 als Zwanzigjähriger dem palästinensischen Widerstand anschloss. Nachdem er Sprengstoff nach Israel hatte schmuggeln wollen und erwischt worden war, sass er mehrjährige Gefängnisstrafen in Israel und Frankreich ab, ehe er 1994 spurlos verschwand. In «Autour du feu» schliesslich bringen Laura Cazador und Amanda Cortés zwei ehemalige Mitglieder der bewaffneten antikapitalistischen «Faselbande», die Ende der siebziger Jahre in der Westschweiz aktiv war, mit drei jungen Aktivistinnen von heute zusammen, um sie rund ums Feuer gemeinsam über verschiedene Formen des Widerstands diskutieren zu lassen.

Wo fängt die Gewalt an?

«La scomparsa di Bruno Breguet» ist ein filmischer Essay; Regisseur Olmo Cerri interviewt Breguets Weggefährt:innen und reist mit ihnen zurück an die Orte, wo Breguets Geschichte entscheidende Wendungen nahm: nach Zürich, Griechenland und Frankreich. Der filmische Raum öffnet sich für all die Unsicherheiten und Zweifel, nicht nur rund um die Person Breguet, der letztlich ein Unbekannter blieb, sondern auch rund um Gewalt in all ihren Formen, vom Sprengstoffattentat bis zum Elend in den Flüchtlingslagern. «Wir sind alle ambivalent und haben zwei Seiten», sinniert eine Weggefährtin. Ein anderer positioniert sich deutlicher: «Für diejenigen, die die Welt verändern wollen, ist der Terrorismus eine menschlich und politisch inakzeptable Lösung.» Aber bevor man jemanden wie Bruno verurteile, müsse man auch die Gegenseite der Gewalt kennen. «Die Gewalt, die schon da ist, die Gewalt derer, die an der Macht sind.»

Der Film erhellt zudem eine Epoche, in der linker Terrorismus in Europa zum Alltag gehörte. Kathrin Plüss, die Editorin von «La scomparsa di Bruno Breguet» und ebenfalls auf dem Podium, hat diese Zeit selbst miterlebt; sie kannte Breguet und dessen Weggefährt:innen. Sie sei, so wird sie beim Panel vorgestellt, «mit dem Widerstand gross geworden», was sie aber so nicht gelten lassen möchte. Gleichwohl bezeichnet sie diesen Film als das Werk, das ihre politische Haltung am besten widerspiegle.

Banküberfall als Notwehr

Die zwei Filme, deren gemeinsamer Kontext heute wieder das Weltgeschehen dominiert, bieten so viel Gesprächsstoff, dass der dritte Film in der Debatte mit seiner Metaebene nur am Rand Platz findet. «Autour du feu», in Solothurn mit dem neuen Jurypreis «Visioni» ausgezeichnet, fragt direkter als die beiden anderen nach der Legitimität der Gewalt. Nein, das sei keine Gewalt, wenn eine Bank überfallen werde, sondern Notwehr, sagt hier der ehemalige Widerstandskämpfer. Immerhin gehöre das Geld eh dem Volk. Die jüngere Frau hakt nach, dass das doch schon irgendwie gewalttätig sei, wenn man die Waffe auf eine Person richte. Da werden auch die Ambivalenzen beim Schneiden klar: So erzählt Cazador, dass sie das ungemütliche Schweigen, das zwischen Aussage und Nachfrage entstanden sei, herausgeschnitten habe.

Bis wann ist welche Gewalt legitim? Auch auf dem Podium wagt man keine eindeutigen Antworten. «Aus der Schweiz ist es so einfach, rote Linien zu ziehen», sagt Plüss an einer Stelle. Und was bedeutet nun Widerstand auf der Leinwand? Auch darauf findet sich an diesem Vormittag in Solothurn keine Antwort. Im Gegenteil beleuchtet das Panel das Kino nicht als Ort des Widerstands, sondern als Raum der Reflexion, der ausserhalb der ideologischen Lager auch Ambivalenzen zulässt. Insbesondere der vorsichtig fragende Beitrag «La scomparsa di Bruno Breguet» wirkt damit wie Balsam für die hochpolarisierte Debattenkultur dieser Tage.

Siehe auch das aktuelle WOZ-wobei-Heft zu den Solothurner Filmtage.