Auf allen Kanälen: Alles für die Schlagzeile
Wissenschaftsjournalismus wird in den grossen Verlagshäusern zurückgebaut. An seiner Stelle macht sich eine ideologische Umdeutung von Studien und Begriffen breit.

Wissenschaftliche Begriffe und Studien finden ihren Weg in die Öffentlichkeit oft über wissenschaftsjournalistische Beiträge. Oder, im Fall der Geistes- und Sozialwissenschaften, vermehrt auch über Artikel in den Ressorts «Gesellschaft» oder «Schweiz». Im Gegensatz zu Beiträgen über Quantenphysik oder KI wird etwa soziologische Forschung dort meist nicht als Wissenschaft verhandelt, sondern entweder als Meinung abgetan – oder auf eigene Vorurteile zurechtgebogen.
Besonders emblematisch dafür ist ein kürzlich in der «SonntagsZeitung» erschienener Artikel, der die zehn «kuriosesten» vom Schweizer Nationalfonds unterstützten Forschungsprojekte präsentiert. Warum er nur solche der Geistes- und Sozialwissenschaften auswählte, erklärt der Autor nicht. Bei den Projektbeschrieben fehlt der fachliche Kontext, und die Kritik verliert sich dadurch in polarisierenden Allgemeinplätzen: zu banal, zu abstrakt, zu wenig Schweizbezug. Die Bedeutung von Grundlagenforschung ohne unmittelbaren Anwendungsnutzen lässt der Artikel ausser Acht.
In derselben Ausgabe titelt die Zeitung: «Fast 60 Prozent der Kinder haben einen Migrationshintergrund». Diese Behauptung stützt sie auf Zahlen, die das Bundesamt für Statistik (BFS) für sie ausgewertet habe. Doch das BFS schreibt auf seiner Website: «Der Migrationsstatus von Kindern unter 15 Jahren lässt sich anhand der im BFS verfügbaren Daten nicht bestimmen.» Ja, was denn nun?
Unpräzise verkürzt
«Migrationshintergrund» ist kein einheitlich definierter Begriff. In Fachkreisen wird er bereits seit zehn Jahren kritisiert: zu heterogen dessen Verwendung, zu unklar der Erkenntniswert. Für die «SonntagsZeitung» bezieht er sich auf Menschen «mit mindestens einem Elternteil, der im Ausland geboren wurde oder eine ausländische Nationalität hat», was der Definition des BFS widerspricht: Migrationshintergrund bedeutet, dass beide Eltern eine ausländische Staatsangehörigkeit besitzen. Auch die Statistikämter in Deutschland oder Österreich definieren den Begriff weniger breit als die «SonntagsZeitung».
Die Schlagzeile, dass 58 Prozent der Kinder Migrationshintergrund hätten, sei eine unpräzise Verkürzung, erklärt das BFS auf Nachfrage. Bei dieser Zahl sei nicht berücksichtigt, dass Kinder aus Haushalten mit gemischtem Migrationsstatus selbst keinen Migrationshintergrund hätten. Man könnte auch sagen: Die Schlagzeile ist eine absichtliche Übertreibung.
Schräg mutet auch an, dass im selben Blatt Wochen zuvor noch behauptet wurde, dass Kinder in der Schweiz bei der Pisa-Studie deshalb so schlecht abschnitten, weil Alltagsbegriffe heute immer öfter mit komplizierten, aber politisch korrekten Synonymen ersetzt würden: Statt «Migrationshintergrund» solle man doch einfach wieder «Ausländer» sagen, ist eines der erwähnten Beispiele. Kombiniert würden diese merkwürdigen Behauptungen bedeuten, dass 58 Prozent aller Kinder in der Schweiz Ausländer:innen sind.
Im Gegensatz zum Artikel der «SonntagsZeitung», in dem er ausführlich zitiert wird, hat der Soziologe Ganga Jey Aratnam Anfang Jahr im Interview mit der NZZ den Sachverhalt noch korrekt beschrieben: «Heute haben 58 Prozent aller Kinder einen Elternteil mit Migrationshintergrund.»
Offen bleibt aber auch da die Frage, was diese Zahl überhaupt aussagen soll. Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn ein Elternteil auch eine ausländische Nationalität besitzt, unter Umständen aber selbst schon in der Schweiz aufgewachsen ist? Wer muss wo integriert werden, wenn die lokale Sprache und die Gepflogenheiten bekannt sind? Das ist nicht mehr Soziodemografie, sondern Ahnenforschung.
Abgänge beim Wissen
Vielleicht werden die Geistes- und Sozialwissenschaften auch deshalb nicht als Wissenschaften, sondern als Meinungen behandelt, weil ihre Forschungsergebnisse der einfachen Schlagzeilenlogik widersprechen. Besonders bedenklich: Klassischer Wissenschaftsjournalismus wird in den grossen Medienhäusern weiter zurückgebaut. Im Umfeld von Tamedia wie «NZZ am Sonntag» wurden in diesem Bereich gerade kürzlich wieder Abgänge vermeldet. Parallel dazu verläuft die Verbreitung von soziologischen Halbwahrheiten durch fachlich weniger qualifizierte Journalist:innen.