Kunst in Alterszentren: Die Spur führt zu Frau Diggelmann

Nr. 6 –

Die Kuratorin Karin Frei Rappenecker bringt Künstler:innen mit alten Menschen zusammen. Dabei entsteht Schönes und Unerwartetes. Wer hat wohl diese witzige Collage gemacht?

Foto einer Collage auf der eine Wildkatze, Katzenfutter und eine Meeresbrandung zu sehen sind
Wer hat die hässige Katze collagiert? Im Zürcher Alterszentrum Klus-Park erfährt die WOZ mehr. 

«In Alterszentren leben viele Leute, die kaum noch rausgehen können», sagt die Kuratorin Karin Frei Rappenecker. «Da liegt es nahe, die Welt zu ihnen zu bringen.» Frei Rappenecker lädt Künstler:innen ein, sich für eine Woche in einem Alterszentrum einzuquartieren. Dort gehen sie ihrer Arbeit nach und beziehen die Bewohner:innen mit ein.

2023 fanden sechs solche Aufenthalte statt. Françoise Caraco richtete in Zürich Wiedikon ein «Erinnerungs- und Erzählbüro» ein. Markus Weiss wollte in Winterthur mehr über das Leben der alten Menschen erfahren; beim Erzählen konnten sie sich von Dinah Wernli porträtieren lassen. In Regensdorf aquarellierte Maya Bringolf mit Bewohner:innen, Michael Günzburger nahm seine Druckerpresse mit ins Alterszentrum. Andreas Dobler brachte eine riesige Leinwand nach Zürich Hottingen, die sich kollektiv bemalen liess. Ebenfalls in Hottingen schuf Susanne Hofer mit Bewohner:innen Collagen. Fotografin Caroline Minjolle, die auch für die WOZ arbeitet, dokumentierte das ganze Projekt – und brachte die Bilder auf die Redaktion.

Gegen alle Widerstände

Unter den Fotos fällt eine Collage auf. Stilsicher, mit einem grossen Gespür für Bildkomposition hat da jemand eine hässige Katze auf ein Surfbrett gestellt. Das Resultat ist schlicht und absurd. «Könnte von Beni Bischof sein», sagt jemand im WOZ-Büro. Die Collage, da sind wir uns einig, hat einen prominenten Platz verdient. Und als Autorin des Textes zu den Bildern lässt mich die Frage nicht mehr los: Wer hat wohl dieses Bild gemacht?

Ein paar Wochen später sitze ich ihr gegenüber, im Klus-Park in Zürich Hottingen. Nelly Diggelmann (93) erzählt aus ihrem Leben. Sie erzählt in Bruchstücken, stockt oft, versucht, sich zu erinnern. Ihr Gehör hat nachgelassen, und es ärgert sie. «Ich war immer so selbstständig, immer in Bewegung.» Jetzt braucht sie ein Hörgerät und einen Stock, aber ins Kunsthaus geht sie immer noch allein. Theater, Kunst und Literatur sind Diggelmanns grosse Leidenschaften, die sie ihr Leben lang verfolgt hat, gegen alle Widerstände.

Portraitfoto von Nelly Diggelmann
«Mein Leben ist so reichhaltig»: Nelly Diggelmann im Klus-Park. 

Sie lernte Sekretärin, dann wollte sie an die Schauspielschule. Doch zuvor heiratete sie ihren Freund – als Paar ledig zusammenzuleben, war um 1950 unmöglich. «Ich hatte schon alle Anmeldungen für die Schule beisammen», erinnert sich Diggelmann, «da sagte mein Mann: Vergiss es, das kannst du nicht, du bist viel zu ‹schüüch›.» Die junge Frau gab nach. Mit 22 bekam sie einen Sohn, später eine Tochter. Sie hoffte weiter auf eine gleichberechtigte Ehe – schliesslich vertrat ihr Mann, der Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann, linke, revolutionäre Ideen. Zumindest nach aussen. Zu Hause lief es ganz anders, als sie es sich vorgestellt hatte. Nach sechzehn Jahren Ehe trennte sie sich.

Mit ihrem zweiten Mann, einem Mode- und Werbefotografen, lief es gut. «Komm zu mir, ich baue dir ein Haus», sagte er. Er liess es tatsächlich bauen, ausserhalb der Stadt St. Gallen, «wunderbar, modern, mit acht Meter hohen Wänden». Das Paar veranstaltete Ausstellungen mit Zürcher Künstler:innen, manchmal kamen 200 Leute an die Vernissagen. Sie habe gern Gastgeberin gespielt, sagt Diggelmann. Sie arbeitete als Sekretärin ihres Mannes und machte den Haushalt. Es lief gut – bis zur Ölkrise 1973. Ihr Mann verlor in kurzer Zeit fast alle Aufträge, wurde depressiv. Sie trennte sich – und musste ihren Mann betreiben, der zwar einen Lohn für sie von den Steuern abgezogen, aber nie ausbezahlt hatte.

Nelly Diggelmann zog zurück nach Zürich und wurde Kultursekretärin beim «Tages-Anzeiger». Dort gehörte es zu ihren Aufgaben, die Rezensionsexemplare in Empfang zu nehmen. «Jeden Tag einen Tisch voll neuer Bücher!» Sie klingt heute noch begeistert. Wie ernst die Tageszeitungen ihre Kulturberichterstattung einmal nahmen – kaum noch vorstellbar.

Die Pensionierung nahm Diggelmann eher widerwillig hin. Sie arbeitete einfach weiter, nun an der Kasse und in der Aufsicht verschiedener Museen. Und endlich konnte sie mit dem Tanztheater Dritter Frühling selbst auf der Bühne stehen. «Mein Leben ist so reichhaltig», sagt Nelly Diggelmann. Aber die Schwerhörigkeit macht sie traurig. «Der Kopf ist voraus, und der Körper mag nicht nach.»

eine Frau schneidet die Umrisse einer Kuh aus einer Zeitschrift
Üppiges Material: Aus Fotos und Zeitschriften entstanden im Klus-Park Collagen.
Andreas Dobler bemalt eine riesige Leinwand
Andreas Dobler brachte eine riesige Leinwand zum Bemalen in den Klus-Park.
Maya Bringolf hängt ein Aquarell-Bild auf
Aquarellieren mit Maya Bringolf in Regensdorf.
Schnipselreste auf dem Boden
Schnipselreste von Susanne Hofers Collagenprojekt.

Soziale Performance bei den Briefkästen

Das städtische «Gesundheitszentrum für das Alter» Klus-Park war einst ein Spital. «SP-Stadträtin Emilie Lieberherr hat damals veranlasst, dass jedes Zürcher Quartier ein Alterszentrum erhält», sagt Barbara Blass, Fachfrau Aktivierung im Klus-Park. «Wir sind heute sehr froh darum.»

Blass war es, die Diggelmann motivierte, an Susanne Hofers Collagenprojekt teilzunehmen. Diggelmann war skeptisch: «Ich bastle nicht gern.» Doch als sie einmal am Tisch sass, hatte sie grossen Spass. Genau wie Blass: «Ich habe auch mitgemacht. Es gab so eine schöne Auswahl an Bildern, die man neu kombinieren konnte.»

Susanne Hofer ist Foto- und Videokünstlerin. «Ich arbeite viel am Computer. Mir dabei zuzuschauen, wäre nicht spannend gewesen.» So kam sie auf die Idee der Collagen. Sie fragte die Bewohner:innen nach ihren Lieblingsorten und fotografierte diese. Mit diesen Fotos, anderen aus Hofers Archiv und Bildern aus Zeitschriften konnten sie weiterarbeiten. «Mir war wichtig, üppiges Material zur Verfügung zu stellen.»

Hofer richtete ihren Tisch bei den Briefkästen des Alterszentrums ein. «Da lief immer etwas, ich fühlte mich wohl. Das Ganze wurde auch eine soziale Performance.» Besonders in Erinnerung bleibt ihr die Begegnung mit der neunzigjährigen Fotografin Liva Tresch, der ersten Chronistin der Schweizer Lesbenszene, die im Klus-Park wohnt.

Dieses Jahr finden noch einmal sechs Residencies in Zürcher Alterszentren statt. 2025 wird das Projekt in einem Buch dokumentiert.

Foto-Kollage: Brunnen vor dem Klus-Park mit Erdnüssen
Der Brunnen vor dem Klus-Park, verfremdet.
drei Menschen in Françoise Caracos «Erinnerungs- und Erzählbüro» in Zürich Wiedikon
Françoise Caracos «Erinnerungs- und Erzählbüro» in Zürich Wiedikon.
Michael Günzburger zeigt Teilnehmer:innen ein Bild
Den Alltag aufs Papier bringen: Michael Günzburger in Aktion.
Abzüge aus der Druckerpresse von Michael Günzburger
Michael Günzburger nahm seine Druckerpresse nach Regensdorf mit.