Fotografie: Bevor es die alte Haut abstreift

Nr. 45 –

Ruth Erdt hat ihre Heimat Schwamendingen in Zehntausenden Fotos dokumentiert. Das entstandene Gedächtnis wirkt überaus lebendig.

ein junger Mann mit Sonnenbrille
Freibad Auhof in Schwamendingen
Graffiti «K 12» an einer Hauswand
eine junge Frau balanciert auf einem Brückengeländer über der Autobahn-Einhausungs-Baustelle
Da wuchs eine Liebe zu ­Schwamendingen heran: Seit über zehn Jahren fängt Ruth Erdt den Zürcher Stadtteil ein.

Die alte Frau schaut konzentriert in die Kamera. Der Farbton ihrer Haut und des lachsfarbenen Pullovers heben sich nur unwesentlich von demjenigen des hellbraunen Sofas ab, die leichte Rötung rund um die Augen betont den Blick. Auf dem Bild gegenüber geht dieser zu Boden, die Frau lacht herzlich. Dass hier die Spannung abfällt, verstärkt die Intimität. Weiterblättern: ein Paar in roter und blauer Schürze, vielleicht am Hintereingang eines Restaurants, in dem sie servieren, er küsst sie auf die Wange. Auf der nächsten Doppelseite zwei Sänger in weissen Hemden vor einem glitzernden Schlagzeug auf einer Bühne, man denkt an Sinatra oder Schlager.

Die beiden bilden das Duo en Vogue, wie wir im Register zum mächtigen Bildband nachlesen, in dem die Fotos abgedruckt sind: «K12. Schwamendingen, ein Randbezirk von Zürich». Rund 600 Fotos von Ruth Erdt, alle aufgenommen im nördlichen Zürcher Stadtteil, sind im fast tausendseitigen Band versammelt.

Per du mit dem Polier

In einem kurzen, präzise formulierten Text am Ende des Buchs schildert Erdt die Begegnung mit der alten Frau. Seit vierzig Jahren lebt diese zu diesem Zeitpunkt in einer Genossenschaftswohnung am Tulpenweg. Sie wohnte schon in der Gegend, da gab es die Autobahn noch nicht, die Schwamendingen Ende der siebziger Jahre in zwei Teile schnitt. Fünf Jahre nach der Begegnung wird ihre Siedlung abgerissen, der Platz wird für die Baustelle gebraucht: Gebaut wird die Einhausung Schwamendingen, eine fast ein Kilometer lange Überdachung der Autobahn, im Frühling 2025 soll sie eröffnet werden. Sie bringt eine Wiedervereinigung des Quartiers, lässt den Autolärm verstummen, schafft einen städtebaulich bemerkenswerten, hoch gelegenen Park – und treibt die Aufwertung und die Verdrängung der ärmeren Bevölkerung voran.

Diese riesige Baustelle und der damit verbundene Abbruch in der Umgebung tauchen auch auf den Fotos von Ruth Erdt immer wieder auf. Doch die Fotografin ordnet ihre Bilder nicht chronologisch, die allgegenwärtige Veränderung interessiert sie, aber ohne dass sie diese als konsistente Geschichte erzählen will. Nachdem die alte Frau am Tulpenweg ausgezogen ist, dokumentiert Erdt den Abbruch, mit dem Polier ist sie per du, zwei andere Künstler montieren Teile des Hauses ab, in den Abbruchhäusern steigt eine illegale Party, eine weitere wird von randalierenden Fussballfans gekapert, bevor die Baustelle abgezäunt wird. Eines der Fotos zeigt, was jemand an eine Wand geschrieben hat: «Danke für alles».

Ruth Erdt zog Anfang der neunziger Jahre mit ihrer Familie nach Schwamendingen. Wenn sie in Interviews davon erzählt, klingt das weniger nach Bohème als nach einem praktischen und gesellschaftlichen Raumbedürfnis: Platz für ein Fotoatelier im Dachstock des alten Häuschens, das man mit den bescheidenen Einnahmen bezahlen kann, Schutz vor verurteilenden Blicken, wenn man die Wäsche ewig im Garten hängen lässt oder dort spätabends ein riesiges Feuer macht und mit Freund:innen festet.

Aber da wuchs auch eine Liebe zu Schwamendingen heran, das sieht man ihren Fotos sofort an. Vor über zehn Jahren beginnt Erdt, den Stadtteil und seine Veränderung wie dessen Bewohner:innen einzufangen: Jugendliche am Oberstufenball oder an der Chilbi, einen Schafhirten mit T-Shirt aus den Irlandferien, zwei Polizisten mit Polizeifahrrad vor einem alten Brunnen, einen Drehorgelspieler neben einer toupierten Kleinhundehalterin, Randständige, die auf dem Schwamendingerplatz Dosenbier trinken. Erdt geht nahe ran mit der Kamera, man merkt, dass sie die Geschichten der Leute kennt und eine Ahnung hat vom Leben im Quartier.

Es ist eine Stärke dieser Arbeit, dass sie Einheitlichkeit oder zu eindeutige Linien weder in der von ihr dokumentierten Welt noch in der Wahl ihrer formalen Mittel sucht. Mal betont das digitale Korn die Beiläufigkeit einer Aufnahme, wenn Erdt im Dunkel einer Party fotografiert, manche ausgeleuchteten Porträts erinnern dagegen an grelle Modefotografie.

Stolzes Werken

Ausgespielt wird diese Vielseitigkeit auch in der Kunsthalle Zürich, wo Erdts Fotos aus Schwamendingen derzeit in einer Ausstellung zu sehen sind. Von riesigen Vergrösserungen auf Vorhängen und Wandpostern, auf denen die Abbruchhäuser fast zu Ruinenporno ästhetisiert werden, über die formalen und inhaltlichen Bezüge, die unter den gerahmten Abzügen oder den mit Bildschirmen hergestellten Serien sichtbar werden, bis zum Wühltisch, wo Hunderte handgrosser Abzüge mit vielen Porträts an ein chaotisches Familienarchiv erinnern.

Die Wandlung des Blicks ist sowieso nicht überraschend: Rund 60 000 Fotos umfasst die fotografische Langzeitbeobachtung bereits. Die Emsigkeit der Fotografin richtet sich auch gegen das beschleunigte Verschwinden und Vergessen: «Ich fotografiere Schwamendingen, bevor es die alte Haut ganz abstreift», schreibt Erdt. Sie erzählt von einem Obdachlosen, der kurz nach einer Begegnung mit ihr starb: «Mir bleibt sein Bild.» Natürlich schwingt da auch Wehmut mit, aber nur als eine Gefühlslage von vielen. Zu stolz posieren und werken hier alle, zu viel wird gelacht und geknutscht, zu verspielt präsentieren sich die suburbanen Betonlandschaften.

Ein Foto, in der Ausstellung klebt es gross an der Wand: ein für Schwamendingen typischer dreistöckiger Wohnblock, circa fünfziger Jahre, das Dach und die Rückseite schon vom Bagger zerborsten. Von einem Balkon hängt noch eine übrig gebliebene orange Store an einer Stange aus der grauen Fassade heraus – eine im lokalen Farbschema getarnte Geste der Kapitulation?

Buchcover «K12. Schwamen­dingen, ein Randbezirk von Zürich»
Buch: Ruth Erdt: «K12. Schwamen­dingen, ein Randbezirk von Zürich». Steidl Verlag. Göttingen 2024. 912 Seiten.

Ausstellung: «Ruth Erdt. K12 – Schwamendingen». Kunsthalle Zürich, bis zum 19. Januar 2025.