Nordirland : Wo ist die Grenze?
Sie ist katholisch, kämpft für die Wiedervereinigung mit der Republik Irland und steht nun der nordirischen Regionalregierung vor. Die Amtseinführung von Michelle O’Neill ist historisch.
Auf den Tag genau nach zwei Jahren ohne Regionalregierung ist vorigen Samstag eine neue Exekutive in Belfast eingesetzt worden. Mit der 47-jährigen Michelle O’Neill ist zum ersten Mal ein Mitglied von Sinn Féin, dem ehemaligen politischen Flügel der inzwischen aufgelösten Irisch-Republikanischen Armee (IRA), zur Ersten Ministerin gewählt worden.
Das war so nie geplant gewesen. Als die britische Regierung Irland vor gut hundert Jahren teilte, zog man die Grenze so, dass die protestantisch-unionistische Bevölkerung im Norden eine bequeme Mehrheit stellte. Nordirland war lange ein Ein-Parteien-Staat, in dem Katholik:innen Bürger:innen zweiter Klasse waren, was Ende der sechziger Jahre schliesslich zum gewaltsamen Konflikt führte, der 3500 Menschen das Leben kostete. Nach dem Belfaster Friedensabkommen von Karfreitag 1998 wurde die Macht im Regionalparlament zwar geteilt, doch die Unionist:innen blieben stärkste Kraft. Das änderte sich bei den Wahlen im Mai 2022 – auch weil das unionistische Lager zerstritten war.
Eine Sinn-Féin-Regierungschefin hat vor allem symbolische Bedeutung, denn Emma Little-Pengelly von der Democratic Unionist Party (DUP) ist als Stellvertreterin vollkommen gleichberechtigt. Symbole haben aber in der nordirischen Politik seit jeher eine grosse Rolle gespielt.
Die Väter im Knast
O’Neill stammt aus einer Arbeiterfamilie und wuchs in einem Dorf in der Grafschaft Tyrone auf. Mit sechzehn bekam sie eine Tochter. Ihre Mutter übernahm die Erziehung, damit O’Neill ihren Schulabschluss machen konnte. Ihre Mitschülerinnen und das Lehrpersonal beteten für sie wegen ihres «Fehltritts».
O’Neill trat nach dem Karfreitagsabkommen Sinn Féin bei. Seit 2018 ist sie stellvertretende Parteichefin. Sie gilt als Vertreterin einer neuen Generation, die mit der IRA nichts zu tun hatte. Um die alte Garde bei der Stange zu halten, nahm sie aber an Beerdigungen von IRA-Kämpfern teil. Ihr Vater Brendan Doris war IRA-Mitglied und sass eine Weile im Gefängnis.
Emma Little-Pengellys Vater Noel Little verbrachte ebenfalls eine Weile im Gefängnis – auf der Gegenseite, versteht sich. Man hatte ihn in den achtziger Jahren in Paris festgenommen, weil er Waffen für die militante protestantische Organisation Ulster Resistance beschaffen wollte. Die heute 44-jährige Emma Little-Pengelly ist Rechtsanwältin und arbeitete als Sonderberaterin für drei Erste Minister der DUP, darunter den Parteigründer Ian Paisley. Sie gilt als Verbündete von DUP-Parteichef Jeffrey Donaldson, der damit weiterhin viel Einfluss in der nordirischen Politik behält, ohne die Schmach zu erdulden, selbst unter einer Ersten Ministerin von Sinn Féin arbeiten zu müssen.
Die DUP hatte die Regierung vor zwei Jahren durch ihren Austritt zu Fall gebracht. Grund dafür war ein Zusatzprotokoll zum Brexit-Vertrag, das Sonderregelungen für Nordirland enthielt: Die Provinz blieb im EU-Binnenmarkt und in der Zollunion. Dadurch sollte eine Grenze mitten in Irland vermieden werden. Aber irgendwo musste es eine Grenze geben: So wurde die britische Provinz auf der kleinen Nachbarinsel immer wieder zum Stolperstein für den Brexit, da nun der Warenverkehr zwischen Grossbritannien und Nordirland kontrolliert werden muss.
Abgeschreckte Investoren
Die Rückkehr der DUP in die Regierung wurde deshalb an Bedingungen geknüpft: Die britische Regierung sicherte zu, sämtliche Kontrollen für Waren, die aus Grossbritannien nach Nordirland kommen, abzuschaffen. Waren, die weiter in die Republik Irland gehen, also in die EU, müssen nach wie vor kontrolliert werden.
Die DUP hat sich ausserdem eine «Stormont Brake», also eine «Bremse» durch das nordirische Stormont-Parlament, zusichern lassen. Das bedeutet, dass das Parlament jede Veränderung von EU-Regeln für Nordirland verhindern kann. Wegen dieser Unwägbarkeiten werden internationale Investoren, für die der freie Zugang zum britischen und EU-Markt attraktiv wäre, abgeschreckt. So hat die DUP wieder einmal die Chance auf einen Schub für die nordirische Wirtschaft zugunsten eines symbolischen Akts geopfert.
Die nordirische Wirtschaft wird sich künftig also auf den britischen Markt konzentrieren. Mittelfristig könnte sich das als DUP-Eigentor entpuppen: Wenn Nordirland im Gleichschritt mit Grossbritannien in eine Wirtschaftskrise gerät, könnte die irische Vereinigung an Attraktivität gewinnen. Sinn-Féin-Präsidentin Mary Lou McDonald erwartet noch in diesem Jahrzehnt ein Referendum zu diesem Thema. Ob es für eine Mehrheit reicht, ist aber zweifelhaft. Derzeit sind in Nordirland nur vierzig Prozent für die Vereinigung.
Viel hängt davon ab, ob die Regionalregierung die wirtschaftlichen Probleme wenigstens ansatzweise lösen kann. Die DUP verzichtete vorsichtshalber auf das Finanzministerium und überliess es Sinn Féin. Zwar überweist die Londoner Regierung 3,3 Milliarden Pfund (umgerechnet rund 3,6 Milliarden Franken) nach Belfast, aber das Geld reicht hinten und vorne nicht, um das Gesundheitswesen und den öffentlichen Dienst sowie viele andere Bereiche, in die zwei Jahre lang kein Geld geflossen ist, zu sanieren. So sind unpopuläre Massnahmen wie zum Beispiel die Einführung von Wassergebühren oder Kürzungen im Sozialhaushalt zu erwarten.