Von oben herab: Einer für alle, alle für einen

Nr. 7 –

Stefan Gärtner interpretiert Simon Michel

Simon Michel, seit Herbst für die Solothurner FDP im Nationalrat und Chef des Medizinunternehmens Ypsomed, das gerade, wie die Presse weiss, «dank des Abnehmspritzenbooms hohe Wachstumsraten und Gewinne» erzielt, hat den Zeitungen von CH Media ein Interview gegeben, das aus sehr guten Sätzen besteht, die wir uns alle hinter die Ohren schreiben sollten. So gut, treffend und wahr sind sie, dass sie sich von erfundenen Sätzen schon gar nicht mehr recht unterscheiden lassen. Probieren Sies aus: Nur ein Viertel des folgenden Textes stammt von Michel. Welches?

«Die Wirtschaft muss viel aktiver werden, wenn sie noch eine Stimme haben will. Es ist dringend nötig, dass wir uns stärker engagieren. Der Staat macht ja sonst nicht, was die Wirtschaft will. Der Staat, der wir alle sind, ist ja ein ganz neutraler Vertreter von Interessen: Mal vertritt er das eine Interesse, mal das andere, mal das Interesse einer Pflegefachkraft mit Diabetes, mal das der Pharmaindustrie. Wenn also die Pharmaindustrie nicht aufpasst und es versäumt, dem Staat gegenüber ihre Interessen zu formulieren, bekommt plötzlich die Pflegefachkraft ihr Insulin geschenkt. Und wo kommt dann das Geld her, um an Spritzen zu forschen, die bewirken, dass wir viel und schlecht essen können, ohne fett zu werden?

Also braucht es unbedingt Leute, gerade im Parlament, die das Interesse der Industrie vertreten. Das ist nur fair! Im Nationalrat gibt es Besitzende, also die Kapitalseite, und es gibt zum Beispiel die vielen Pflegefachkräfte, und ohne Leute wie mich, die die Pflegefachkräfte im Parlament ausgleichen, hätten wir dann sozusagen eine Diktatur, nämlich eine des Proletariats. Dann müsste ich mich, wie das früher zynisch hiess, ‹in der Produktion bewähren›, statt grossen wirtschaftlichen Erfolg mit einem allseits gewünschten und also rundum legitimen Produkt zu haben, das gewährleistet, dass die Lebensmittelindustrie nicht auf Schokoriegeln und Fertigpizza sitzen bleibt. Was der Markt nämlich will, das soll er haben. Es ist also ganz falsch, immer auf ‹der Wirtschaft› herumzuhacken, denn auch der Markt sind wir alle.

Die Politik könnte von den Praxiserfahrungen aus der Wirtschaft profitieren. Denn es ist nicht gross anders, ob man einen Konzern oder einen Staat führt. Die Schweiz ist ein 80-Milliarden-Unternehmen – mit Kunden und einem Budget. Und auch die Verteilung der Rollen ist ähnlich: Das Parlament gibt wie der Verwaltungsrat die Richtung vor, die Regierung müsste wie die Geschäftsleitung umsetzen. Hier hapert es allerdings immer wieder. Denn mit ‹Kunden› sind Leute mit Geld gemeint. Wer kein Geld hat, kann nicht Kunde sein. Das liefe gegen die Bedeutung des Wortes. Also soll der Staat, wie ich ihn verstehe, sich an der Wirtschaft ein Beispiel nehmen und die Kundschaft König sein lassen. Wer kein Geld hat, muss dann eben nicht glauben, vom Staat welches zu bekommen. Der Staat soll ein Unternehmen sein, keine Sozialanstalt, und in einem Unternehmen gilt, dass es nichts umsonst gibt und dass der Chef, also etwa ich, sagt, wo es langgeht, damit der Chef, also ich, möglichst viel verdient und den anderen davon abgeben kann.

Wohlstand basiert auf dem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf. Dieses hat sich in den letzten zwanzig Jahren um 50 Prozent gesteigert, von 60 000 auf 90 000 Franken. Relativ viel funktioniert gut in unserem Land. Denn mehr Bruttoinlandsprodukt bedeutet, dass alle mehr in der Tasche haben, jedenfalls wenn sie arbeiten, genauer: das Richtige arbeiten. Also Sachen tun, von denen die Gesamtwirtschaftsleistung profitiert. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Unternehmen die Kosten klein halten muss. Das gilt für den Staat ganz genauso. Wer nur kostet, kann doch nicht auch noch Geld verlangen. Das ist Freisinn, und ich will ihn vertreten.»

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

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